Heilpädagogische Forschung

Rezensionen Heft 4 Jahrgang 2015

Meyer, B.E., Tretter, T. & Englisch, U. (Hrsg.) (2015). Praxisleitfaden auffällige Schüler und Schülerinnen. Weinheim: Beltz-Verlag, 264 Seiten, € 24,95.

Mit dem vorliegenden Band haben Barbara Meyer, Tobias Tretter und Uta Englisch einen Band aus der Beltz-Reihe „Pädagogik Praxis“ herausgebracht, der unter seinesgleichen hervorsticht, denn die wichtigsten Aspekte aktueller Pädagogik in Hinblick auf die Lösung von Disziplinkonflikten sind auf anschauliche, solide und – auf den Buchumfang bezogen – qualifizierte Weise in sechs Kapiteln niedergelegt:

  1. Einleitung,
  2. Förderliche Haltung im Umgang mit Auffälligkeiten,
  3. Von der Haltung zum gesunden Handeln,
  4. Dokumentation, Informations- und Schweigepflicht,
  5. Vorgehen in sechs Schritten,
  6. Spezifische Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen.

Zugegeben sei, dass nicht alle Kapitel in gleicher Weise lesenswert sind, dass die Kapitelabfolge nicht immer einer inneren Logik folgt und manches sich auch anders sehen ließe, ein Beispiel: In der Einleitung schreiben die Autoren auf Textseite 7 zur Terminologie „So wird häufig der Begriff ‚Schüler/in mit Verhaltensstörung‘ verwendet, der aber einerseits stigmatisiert und zum anderen jene Auffälligkeiten nicht einschließt, die einen besonderen Umgang erfordern, sich jedoch nicht in einem störenden Verhalten zeigen.“ Darüber ließe sich nun trefflich streiten, denn auch der im Buchtitel verwendete Terminus („auffällige Schüler und Schülerinnen“) ist ebenfalls stigmatisierend. Außerdem verletzt er zudem die „people-first-policy“, der gemäß eine Eigenschaft nicht an die Person geheftet werden darf. Und wenn man dann schon die etwas abgestandene Definition von Myschker ins Feld führt, dann doch vielleicht die aus einer neueren Ausgabe aus 2014!

Die dann folgenden Kapitel 2 und 3 sind vielleicht für Erstsemester interessant zu lesen, der Erkenntnisgewinn für die viel beschworene Praxis hält sich m. E. jedoch in Grenzen. Auf Textseite 17 findet sich jedoch ein interessanter Hinweis auf mögliche hypothetische Gründe für störendes Verhalten, die mit dem Beispiel Petra unterlegt werden: Petras Dazwischenrufen muss nicht als Störverhalten gebrandmarkt werden, vielmehr sollte nach hintergründigen Motivationen geforscht werden, in Petras Fall z. B. eine Suche nach Aufmerksamkeit oder nach persönlicher Würdigung oder auch der Versuch einer fehlgeleiteten Selbstdurchsetzung. Was den Autoren vermutlich an dieser Stelle nicht klar ist: Sie haben den Bereich aktueller Förderpädagogik thematisiert, in der die Funktionale Verhaltensanalyse und die Positive Verhaltensunterstützung im Fokus stehen.

Kapitel 4 besteht aus nur zweieinhalb Textseiten zur Dokumentation, Informations- und Schweigepflicht und wäre vielleicht besser am Buchende platziert. Es werden nur wenige Stichwörter, z. B. zur Schweigepflicht und Dienstordnung, abgehandelt, das Kapitel geht nicht in die Tiefe.

Ab Kapitel 5 wird der Text nun wirklich interessant, das zielorientierte Vorgehen wird in sechs Schritten beschrieben:

– Schüler/innen beobachten
– Gespräche führen
– Trotzdem unterrichten
– Hilfe aktivieren
– Einen Förderplan erstellen
– Bewerten und nachsteuern

Hier werden praktische Hinweise und Begründungen für Schülerbeobachtungen aufgeführt, z. B. einen vom Beobachter unabhängigen Standort besetzen; Beschreibung, Deutung und Bewertung trennen; die Dinge aus der Distanz sehen lernen; aber auch solche Fragen stellen wie: Unter welchen Bedingungen tritt das Störverhalten nicht auf? Zugleich sollte man gewarnt sein: Nicht alle Störungen lassen sich direkt beobachten.

In den Text ist die Tabelle „Symptome und Auffälligkeiten“ eingearbeitet, die mir einerseits trivial, andererseits kausalitätssimplifizierend erscheint. Dagegen erscheint mir der Leitfaden für Gespräche mit Eltern und Schülern als sehr hilfreich wie auch die sog. Gesprächsregeln und die Hinweise bei Grenzüberschreitungen. Bei aufkommenden Unterrichtsstörungen wird sinnvollerweise eine räumliche, didaktische, akustische, gruppenbezogene und lehrerverhaltensbezogene Strukturierung vorgeschlagen.

Auch das Unterkapitel „Hilfe aktivieren“ wird für manchen Leser Überraschendes bieten, es geht zwar um die bekannten Zugänge (ein wenig bayerisch eingefärbt), aber die Liste möglicher Ansprechpartner liest sich insbesondere für Berufsanfänger spannend. Dasselbe gilt für die nächsten Unterkapitel zu Förderplänen und zum Bewerten, aber auch hier scheinen die südlichen Gepflogenheiten durch, in anderen Bundesländern herrschen andere Förderplan-Sitten vor.

Kapitel 6 ist mit Abstand das längste und inhaltreichste Kapitel, es geht um spezifische Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen: externalisierende und internalisierende Störungen, Süchte und Selbstverletzung, Leistungsstörungen, Zerrüttung des Umfeldes (z. B. sexueller Missbrauch), körperliche Beeinträchtigungen und Entwicklungsstörungen (Hör-, Sehschädigungen, Geistigbehinderungen, Epilepsie, Sprechstörungen, Tic-Störungen. Autismus) sowie Borderline-Störungen.

Zum Buch gehören sehr nützliche Online-Materialien, die auf der Verlagsproduktseite des Buches zu finden sind.

Insgesamt also ein Buch, das sich durch Vielseitigkeit, Informationsfülle und Praxisbezogenheit auszeichnet. Manches ließe sich verbessern z. B. der Buchtitel, der grammatikalisch nicht korrekt abgefasst ist, und ein Blick über die Landesgrenzen hinaus hätte den Inhalten sicher auch gut getan.

Herbert Goetze, Schönwalde


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aktualisiert am
31.12.2015