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Rezension Heft 1 Jahrgang 2015Deegener, Günther (2014). Risiko- und Schutzfaktoren des Kinder- und Jugendhilfesystems bei Prävention und Intervention im Kinderschutz. Lengerich: Pabst, 512 Seiten, € 40,00. Während die Individualpädagogik und -psychologie das Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren auf einzelne Personen anwendet, dehnt Günther Deegener seine Analyse auf ein ganzes System aus: das Kinder- und Jugendhilfesystem. Mit verschiedenen Ansätzen nähert er sich dem komplexen Thema, darunter historische Betrachtungsweise, empirische Ansätze sowie systemischer Ansatz. Letzterer imponiert bei der Durchsicht des Gesamtwerkes als Leitfaden, da er einen angemessenen Zugang erlaubt: In festgefahrenen Strukturen und Perspektiven, die sich immer wieder von neuem verfestigen und erstarren, neue Lösungsmöglichkeiten zu sehen und tatsächliches Veränderungspotential freizulegen. Der Autor reflektiert einen historischen Abriss über die „letzten 75 Jahre“, indem die Entwicklungen im Kinderschutz und in der Heimerziehung in Bezug zum jeweiligen Zeitgeist beleuchtet werden, beginnend mit den Fünfzigerjahren. Ist eine Pädagogik nach dem Motto Wer nascht, wird sofort mit drei Tagen Zimmerarrest bestraft (um nur ein kleines Beispiel zu nennen) heute vollkommen ausgestorben? Deegener betont, wie wichtig es ist, bei einer retrospektiven Beurteilung nicht Gefahr zu laufen, eine überlegene Haltung gegenüber früher an den Tag zu legen, die von Kopfschütteln und Auslachen geprägt ist: So etwas würde man heute niemals mehr machen, das kann nicht mehr passieren. Die falsche Sicherheit, die alten Zöpfe abgeschnitten zu haben, bedingt das Risiko der Blindheit gegenüber zu optimistisch beurteilten modernen bzw. zeitgemäßen Entwicklungen und Methoden, welche möglicherweise in dreißig Jahren ebenso belächelt werden. Dabei werden auch heute, vielleicht insbesondere heute, im Licht des scheinbaren Fortschritts in der Kindererziehung und Kinder- und Jugendhilfe auch im „aufgeklärten“ und professionellen Bereich (vielleicht sogar insbesondere in letzterem?!) sehr ähnliche, vielleicht auch dieselben nicht kindgerechten Methoden angewendet wie vor 50 oder 75 Jahren. Möglicherweise sind diese lediglich theoretisch besser verkleidet, an den Zeitgeist adaptiert, rhetorisch elegant verpackt und präsentiert. Somit ist die Veränderungsresistenz des Systems grundsätzlich größer als gemeinhin angenommen, da die Illusion der Überwindung des Früheren den Blick für das im scheinbar Progressiven ebenso weiter lebenden Potenzial für Starrheit, Dogmatismus und Festgefahrensein verstellt. Deegener nimmt hier jedoch keine pessimistische Haltung ein, sondern eine kritische im Sinne aufklärerisch-reflektierenden Infragestellens. Demut vor den eigenen Erkenntnismöglichkeiten, dies sticht wie ein Leitsatz des Autors hervor – ebenso wie die durchgängig betonte Notwendigkeit des selbstkritischen Reflektierens im lebendigen Diskurs. Denn der Glaube „dass wir automatisch aus Fehlern lernen“ und „selbstverständlich das, was nicht gut gelaufen ist, jetzt besser machen“, ist häufig illusionär. Denn, so Deegener, es bleibt die Ausnahme von der Regel, „dass wir aus Schaden klug werden“. Vielleicht sind wir etwas klüger, wenn wir zumindest dieses verinnerlicht haben. Über die Thematisierung der „frühen Hilfen und Frühwarnsysteme“ gelangt Deegener zu einem
entscheidenden Kapitel, in dem er ein zentrales Problemareal fokussiert: So ist zum Beispiel die Gefahr eines zu schnellen Handelns im Affekt innerhalb einer Krisenintervention ein größeres Problem als gemeinhin angenommen. Bei mangelnder Selbstreflexion des Helfenden projiziert dieser möglicherweise bewusst, unbewusst oder aus schierer Reflexionsresistenz, eigene Befindlichkeiten und Einschätzungen auf Klienten, befriedigt eigene Bedürfnisse und verliert damit das aus den Augen, was seine Klienten brauchen? … Ein anderes Problem des Helfers kann ein zu starker Glaube an das Faktische, Objektive und wissenschaftlich Beweisbare sein, welcher einen Schutz vor dem emotionalen Erleben bietet, aus dem der Verlust einer zur Einfühlung in die Psyche der Betroffenen notwendigen Subjektivität resultieren kann. Das andere Extrem kann darin liegen, dass die pädagogische Beziehung des Helfers zum Klienten durch zu viel Nähe gekennzeichnet ist. Ein solcher Distanzverlust birgt trotz des positiven Aspekts einer gelebten menschlichen Beziehung die Gefahr von erneuten Verletzungen, Kränkungen, Beziehungsabbrüchen und schließlich Verlusten, da der professionelle Helfer so gut wie niemals die Primärbezugsperson ersetzen kann. Weiterhin schildert Deegener als helferinduzierte Risiken einen Misstrauen erhöhenden Umgang mit Betroffenen (fehlende Diskretion und mangelnde Fähigkeit, vertraulich mit Anvertrautem umzugehen), Skandalisierung und Dramatisierung sowie massenmediale Inszenierung bei Scheinbetroffenheit, welche in Wahrheit mehr Neugierde ist … Zusätzlich werden bürokratische Mühlen genannt, Omnipotenzgefühle, Helfersyndrome, Katastrophenorientierung, Abstumpfung sowie die Angst, gravierende Fehler zu machen. Deegener beschreibt hierzu zahlreiche Beispiele und Modelle. Auch diese Gefahrenschilderung erfolgt nicht defizitorientiert. Vielmehr erlaubt sie dem Leser eine Reflexion über mögliche eigene verzerrte Einstellungen und die Arbeit an sich selbst, um achtsam eine durch größere Ausgewogenheit geprägte pädagogische Haltung zwischen Polen wie Nähe–Distanz, Objektivität–Subjektivität, Abwarten–Aktionismus zu seinen Klienten zu gewinnen. Der Autor behandelt im Anschluss das Thema der verbesserten Aus-, Fort- und Weiterbildung – insbesondere im Bereich der Pädagogik, Sozialarbeit sowie Psychologie und Psychotherapie. Er tut dies im Sinne eines differenziert recherchierten Literaturreviews und akzentuiert die Kernpunkte konkret, ohne die Komplexität der Darstellung zu vernachlässigen. Akzentuiert wird, dass es eine große Heterogenität der Wissensinhalte in verschiedenen Ausbildungsgängen gibt, welche auf eine Tätigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe vorbereiten. Die Tatsache, dass in der Ausbildung von Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiterinnen und anderen Professionen im Kinderschutz ein eklatantes Defizit der Vermittlung von Kompetenzen im Bereich empirischer Forschung zu Risiko- und Schutzfaktoren im Kinderschutz besteht, kann nicht in Frage gestellt werden. Deegener legt auch hier gleich den Finger in die Wunde, dass die häufig sofort geäußerte Ablehnung und Kritik gegenüber der Empirie hier ein Hindernis darstellt. So erklärt er zugleich, dass es nicht darum geht, das Fallverstehen durch empirische, den wissenschaftlichen Gütekriterien entsprechende Testskalen zu ersetzen. Dabei bleibt er auch hier der Multiperspektivität treu, indem er Empirie und Fallverstehen nicht im Sinne eines Entweder-oder versteht. Er fordert Aus- und Weiterbildung in der Interpretation von Testbefunden und erläutert empirische Untersuchungen zur Erfassung von Risikofaktoren anhand konkreter Beispiele, die er im Text darstellt. Bei Betrachtung der Problemfelder kommt es nach Deegeners Auffassung zu einer überwertigen Betonung des sexuellen Missbrauchs gegenüber anderen Formen der Kindesmisshandlung. Diese Thematik behandelt er innerhalb des Kapitels, in dem er hinderliche gesellschaftliche und politische Bedingungen für das Helfersystem beleuchtet. So werden emotionaler Missbrauch, sozioökonomische Probleme, soziale Ungleichheit oder andere Formen der Vernachlässigung im Vergleich zum sexuellen Missbrauch zu wenig gewichtet. Im Ganzen handelt es sich um ein umfassendes, zahlreiche Aspekte sehr detailliert beleuchtendes Werk, welches sich mit einem komplexen Thema beschäftigt, an das sich heranzuwagen Mut erfordert. Der Autor vereinigt und verschränkt dabei theoretische Grundlagen und wissenschaftliche Aspekte mit konkreten Praxisbeispielen, wobei es ihm gelingt, die Kernpunkte transparent herauszuarbeiten. Deegeners Analyse der Risiko- und Schutzfaktoren im Kinder- und Jugendhilfesystem bei Prävention und Intervention im Kinderschutz ist für in Wissenschaft und Praxis tätige Erzieher, Pädagogen, Psychologen sowie auch andere mit der Thematik konfrontierte Berufsgruppen wie Ärzte oder Juristen ein Werk, dessen Lektüre allein Veränderungspotenzial freilegen kann – falls der Leser sich einem selbstkritischen Diskurs öffnet und in der Lage ist, verschiedene Perspektiven in sein Weltbild zu integrieren. Generiert werden kann ein Veränderungspotenzial, welches den Klienten, den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien im Endeffekt helfen wird; nicht zuletzt können HelferInnen aus der Lektüre für ihre eigene persönliche Entwicklung wertvolle Impulse erhalten. Christian Fischer, Hamburg
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aktualisiert am 08.03.2015 |