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Rezension Heft 2 Jahrgang 2013Walter-Klose, Ch. (2012). Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderung im gemeinsamen Unterricht. Befunde aus nationaler und internationaler Bildungsforschung und ihre Bedeutung für Inklusion und Schulentwicklung. Athena: Oberhausen 2012, 445 S., 29,50 € Die gemeinsame Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung nimmt Fahrt auf, seit die UN-Behindertenrechtskonvention von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat 2008 übernommen wurde und im März 2009 in Kraft trat. Seither haben sich Sozialverbände, Regierungen und Parlamente, Betroffenenvertretungen, Lehrerverbände und viele andere mit der Frage auseinandergesetzt, wie der Weg zu einer erfolgreichen inklusiven Bildung von „students with disability“ beschritten werden kann. Dabei wird die Schul- und Unterrichtsforschung immer wieder gefragt: Was können die bisherigen Untersuchungen zum gemeinsamem Unterricht uns mitteilen über die Erfahrungen der Beteiligten, über Schulleistungen und soziale Integration, und welche Schlüsse sind daraus über die notwendigen Rahmenbedingungen für Unterricht und Einzelschule zu ziehen, die sich zu einer inklusiven Schule entwickeln soll? Nicht zuletzt: Ist der gemeinsame Unterricht lerneffektiver und zugleich sozial befriedigender als die klassische Beschulung in Förderschulen? Über Schüler/innen mit Lern- und Verhaltensproblemen liegen zahlreiche Studien vor, die diese und andere Fragen beantworten können (vgl. u.a. Schnell, Sander & Federolf, 2011). Das gilt weniger für jene mit Sinnesbehinderungen und mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung. Umso verdienstvoller ist die vorliegende Arbeit von Christian Walter-Klose aus dem Würzburger Institut für Sonderpädagogik. Walter-Klose hat, im Rahmen einer Dissertation, sich die Frage gestellt, was die qualitative und die quantitative Forschung seit den 1970er Jahren im deutschen und im englischen Sprachraum an Erkenntnissen über die subjektiven wie objektiven Wirkungen der Unterrichtung körperbehinderter Kinder und Jugendlicher in Regelschulen – und, soweit dazu Vergleiche vorliegen, in Förderschulen für Körperbehinderte – gewonnen hat. Im deutschen Sprachraum ist dies die erste systematische Auswertung für diesen Förderschwerpunkt. Damit begnügt sich der Verfasser jedoch nicht: Er entwickelt daraus differenzierte didaktische, schulorganisatorische, qualifikatorische und bildungspolitische Vorschläge. Walter-Klose hat für sein Review einschlägige Datenbanken (Eric, Psyndex, bidok, PsycINFO) durchsucht und die gefundenen Studien nach einem an Ditton orientierten Qualitäts- und Merkmalsraster ausgewählt. Dabei ergaben sich für den deutschsprachigen Raum ganze neun und für den englischsprachigen Raum in die Auswertung einbeziehbare 72 Studien. Der Verfasser geht dabei jeweils in drei Schritten vor: Zuerst werden die Untersuchungen, getrennt für die deutsch- und englischsprachigen Publikationsräume, jeweils – nach überzeugenden Auswertungskriterien (vgl. S. 103ff.) – auf ein bis zwei Seiten dargestellt, so dass sich die Leser einen eigenen Eindruck verschaffen können. Sie werden methodisch bewertet und in ihren Ergebnissen vorsichtig interpretiert. Im zweiten Schritt wird, wiederum nach theoretisch begründeten Fragestellungen, eine Synthese innerhalb der beiden Stichproben vorgelegt. In einem umfangreichen letzten Schritt wird der Versuch unternommen, verallgemeinerbare Forschungsergebnisse aus allen 91 Studien zu formulieren. Trotz der großen Heterogenität der körperlichen Beeinträchtigungen und, damit verbunden, der individuellen Lernvoraussetzungen, kommt Walter-Klose zusammenfassend zum Schluss, dass „auf der Basis der Synthese (..) sich sagen (lässt), dass viele Schülerinnen und Schüler mit Körperbehinderung an der Regelschule im gemeinsamen Unterricht gleiche oder bessere Leistungen zeigen als in der Förderschule. Sie sehen den Unterricht häufig als anspruchsvollere Herausforderung an, einige schätzen außerdem das größere Lernangebot der Regelschule“ (S. 370). Das entspricht der integrationspädagogischen Forschung, soweit sie sich auf Kinder mit Lern-, Verhaltens-, Sprach- und geistigen Behinderungen bezieht (vgl. Preuss-Lausitz, 2009). Walter-Klose weist zu Recht darauf hin, dass die sehr unterschiedlichen Designs, die höchst unterschiedliche Zahl der Untersuchten, die große Variabilität körperlicher Beeinträchtigungen (vgl. S. 32), die schulischen Kontextfaktoren und die historische Rahmung häufig nur vorsichtige Schlüsse erlauben. Das hindert den Verfasser dankenswerterweise nicht daran, detaillierte Empfehlungen für Unterricht, Schulraum und Schulkultur, Qualifikationsanforderungen und Unterstützungsangebote zu formulieren. Es fällt bei der Einzeldarstellung vieler Studien auf, dass häufig zwar Erfahrungen und Einstellungen von Schülern, ihren Eltern und Lehrkräften untersucht wurden, dabei jedoch der konkrete Unterricht in der Regelschule eher selten mit untersucht wurde. Aus der allgemeinen wie aus der integrationspädagogischen Unterrichtsforschung wissen wir aber, dass ein guter, differenzierter Unterricht eine zentrale Voraussetzung für gelingendes gemeinsames Lernen ist. Nur wenn diese Dimension in künftigen Forschungsdesigns beobachtend einbezogen wird, können die Erfahrungen und Bewertungen der Schülerinnen und Schüler angemessen interpretiert werden. Und ein zweites fällt auf, insbesondere bei den wenigen deutschen Studien: Was dort vor allem in den 1970er und 1980er Jahren als Einzelintegration untersucht wurde, entspricht nicht den heute üblichen Regelungen für Klassen mit Integration. Integrationsklassen haben in allen deutschen Bundesländern eine, je nach Förderschwerpunkten unterschiedlich umfangreiche, sonderpädagogische Zusatzausstattung. Einzelintegration ist eher unüblich, nicht zuletzt, weil dadurch zu wenig zusätzliche personelle Ressource in die Klasse kommen kann. Historisch haben sich auch die Einstellungen von Lehrkräften, Kindern, Eltern und der Öffentlichkeit gegenüber Behinderten allgemein und dem gemeinsamen Unterricht im Besonderen heute deutlich günstiger entwickelt. In die deutsche Auswertung sind auch Außenklassen einbezogen worden. Außenklassen sind Sonderklassen, sie können Kooperation erleichtern, haben aber nichts mit dem auch vom Verfasser verwendeten anspruchsvollen Begriff Inklusion zu tun, eher mit dem Versuch, Regel- und Sonderschule zu versöhnen, ohne an grundlegende Strukturen zu rühren. Diese Einwände sprechen nicht dagegen, die dort gewonnenen Erkenntnisse mit auszuwerten und in aller Vorsicht Schlüsse für Künftiges zu ziehen. Und bei künftigen empirischen Studien sollten in jedem Fall sowohl die konkreten Unterrichts- und Unterstützungsformen ebenso einbezogen werden wie die jeweiligen lokalen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen. Es sei abschließend erlaubt, nach der Lektüre der über 120 Seiten umfassenden Einzeldarstellungen der Studien ein – mich – tief beeindruckendes Ergebnis hervorzuheben: Oft wird beschrieben, dass Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen Diskriminierung erleben und/oder die erforderliche Rücksichtnahmen, etwa bei der Zeitplanung, bei erforderlichem Unterstützungsmaterial, in der Raum- und Pausengestaltung usw. fehlen – und diese Kinder dennoch gern diese Regelschulen besuchen, ja oft zufriedener mit Lehrkräften und Schule sind als ihre nichtbehinderten Mitschüler. Das ist eine Beobachtung, die auch von der allgemeinen Integrationsforschung berichtet wird und auf ambivalente Erfahrungs- und Sozialisationsprozesse von Heranwachsenden mit Behinderungen verweisen. Moderne Inklusion bedeutet, gegen Diskriminierung aller Art ganz konkret vorzugehen, vor allem aber: die notwendigen individualisierten Unterstützungs- und Rahmungsbedingungen herzustellen. In den Worten des Verfassers: „Aufgrund der großen Heterogenität und Variabilität der Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen mit Körperbehinderung muss die Anpassung individuell erfolgen … die individuelle Belastung des Schülers mit Körperbehinderung (muss) beachtet werden“ (S. 370f.). Das geht – auch dies bedeutet Inklusion – nur, wenn alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe und diejenigen mit Beeinträchtigungen in jedem Einzelfall und auf ‚gleicher Augenhöhe‘ einbezogen werden in die Verbesserung der Kommunikation, in die Formen des konkreten Nachteilsausgleichs und in weitere Unterstützungsformen. Die Arbeit von Christian Walter-Klose stellt eine ausgezeichnete Grundlage dar für die gerade im deutschsprachigen Raum auszuweitende Forschung unter inklusivem Anspruch, auch für andere Behinderungsarten. Zugleich kann sie als Handbuch für die pädagogische inklusive Praxis eingesetzt werden, damit alle Kinder und Jugendliche mit den so vielfältigen körperlichen Beeinträchtigungen eine gelingende und inklusive Lern- und Sozialentwicklung erfahren können. Zitierte Literatur: Ditton, H. (2009). Schulqualität – Modell zwischen Konstruktion, empirischen Befunden und Implementierung. In J. v. Buer, & C. Wagner (Hrsg.), Qualität von Schule (S. 83–92). Lang: Frankfurt/M. Preuss-Lausitz, U. (2009). Integrationsforschung. Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven. In H. Eberwein & S. Knauer (Hrsg.), Integrationspädagogik (S. 458–470). (7. Aufl.) Beltz: Weinheim und Basel. Schnell, I., Sander, A. & Federolf, C. (Hrsg.) (2011). Zur Effizienz von Schulen für Lernbehinderte. Forschungsergebnisse aus vier Jahrzehnten. Klinkhardt: Bad Heilbrunn. Ulf Preuss-Lausitz, Berlin
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aktualisiert am 11.03.2015 |