![]() |
|
Rezension Heft 3 Jahrgang 2009Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt (2008). Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung. München Basel: Reinhardt, ISBN 978-3-8252-8362-9, 381 Seiten, brosch., € 29,90, Sfr 50,50 Bis zum Zweiten Weltkrieg entstanden zahlreiche historiographische Fachbücher über Sonderschulen, z. B. für gehörlose, blinde, geistig behinderte Kinder. Aber sie standen nahezu unverbunden nebeneinander. In den 1970er Jahren begann eine verstärkte Suche nach dem Gemeinsamen in der Heilerziehung. Stationen auf diesem Weg waren u. a. die Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens von Wolfgang Jantzen (1982) und die Geschichte der Sonderpädagogik von Světluše Solarová (1983). Das materialreiche Buch von Sieglind Ellger-Rüttgardt steht in dieser Reihe. Es beruht auf zahlreichen, vorausgegangenen Untersuchungen der Verfasserin zu fachhistorischen Einzelfragen und auf einem mit Heinz-Elmar Tenorth (Humboldt-Universität in Berlin) von 1997–2006 ausgeführten Forschungsprojekt zur Geschichte der Heilerziehung unter dem Aspekt der Bildsamkeit. (Anmerkung 1) Ellger-Rüttgardt beabsichtigt ausdrücklich, eine Einführung zu schreiben. Randbemerkungen markieren Begriffserklärungen, fachliche Kontroversen und Schlüsselbeispiele; eine Zeittafel (zur allgemeinen und zur besonderen Geschichte) und ein Personenregister erleichtern die Übersicht. Das Buch erhebt dazu den Anspruch, über die Einführung hinaus einen Beitrag zur Geschichtsforschung zu leisten; beides zu vereinen, ist ein schwieriger Spagat. Im ersten Kapitel erläutert die Verfasserin die unausweichliche Relativität historischer Darstellungen selbst bei professioneller Quelleninterpretation nach anerkannten Regeln. „Sonderpädagogik“ ist für die Verfasserin ein „Oberbegriff für die verschiedenen sonderpädagogischen Einzeldisziplinen“ (S. 14), doch zieht sie die Konsequenzen aus dieser Definition nicht, sondern setzt neu an, indem sie den Begriff der „Bildsamkeit“ (sensu Herbart) für ihre Untersuchung als zentral erklärt. Ausgangspunkt der Darstellung „soll nicht das bereits als Ergebnis historischer Prozesse generierte Besondere der Pädagogik sein, sondern das Allgemeine, der Universalitätsanspruch auf Bildung für alle“ (S. 15). Die Verfasserin grenzt sich an dieser Stelle (S. 15) von der „Geschichte der Heilpädagogik“ (1988/2007) des Rezensenten ausdrücklich ab. (Anmerkung 2) Die Frage ist, ob und in welcher Form Bildsamkeit im 18. Jahrhundert als Agens wirksam geworden ist, und ob und wie sich das Verständnis universeller Geltung von Bildsamkeit in zwei Jahrhunderten gewandelt hat. (Anmerkung 3) Die Verfasserin entscheidet sich jedenfalls dafür, die Geschichte der Sonderpädagogik unter dem universellen Aspekt der Erziehung zu thematisieren – und nicht als ein versteckt medizinisches Problem, was früher oft geschah. Frau Ellger-Rüttgardt bietet Unterfragen an, und zwar nach (1) Ideen, (2) Personenkreisen (3) Methoden, (4) Institutionen, (5) Professionen und (6) nach der Selbstvertretung behinderter Menschen. Sie verwendet dieses Schema zu Gunsten der Geschichtserzählung nicht pedantisch in jedem Kapitel, sondern greift es nur nach Bedarf auf. Auf deren aussagekräftiges Bedingungsverhältnis geht sie nicht ein. Der Darstellung widmet sie die Kapitel 2. bis 7. Sie beginnt mit „Pädagogik der Aufklärung“ und „Bildung der bürgerlichen Gesellschaft“ (bis etwa 1860). In einer Zwischenbilanz deutet sie die Entstehung der Gehörlosen-, der Blindenschulen, der Rettungshäuser und der Schule für körperbehinderte Kinder als einen paradoxen Vorgang, da „die Einbeziehung Behinderter in das allgemeine Bildungswesen nur um den Preis von Exklusionsvorgängen realisierbar war“ (S. 130). Trennung behinderter von nicht behinderten Kindern und Sammlung in je eigenen Schuleinrichtungen führten in der Tat schrittweise zur Einbeziehung in das öffentliche Erziehungswesen. Paradox erscheint der Vorgang allerdings nur aus heutiger Sicht, insofern man Sonderschulen auf einen „Akt zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Bemühungen um menschliche Bildbarkeit“ zurückführt, wie die Verfasserin es mit Ursula Hofer formuliert (S. 17). Im Licht eines um Integration oder Inklusion bemühten Schulwesens wirkt der Vorgang in der Tat paradox. „Differenzierung“ darf hierbei nicht als zentral gesteuerter Prozess zur Optimierung einer einheitlich und integrativ geplanten Volksbildung angesehen werden; denn sie verlief oft zufällig und keineswegs zentral gesteuert. Unter dem Leitgedanken der Differenzierung folgen „Industrialisierung und soziale Ungleichheit“ im Kaiserreich (1871–1918)“ und „Demokratischer Aufbruch und ‚Blüte der Heilpädagogik‘“ in der Weimarer Republik (1918–1933)“. Hier trifft der Begriff der Differenzierung in einem strengeren Sinn zu; die neueren Sonderschulen verdanken ihre Existenz mehr oder weniger bewusst angestrebten Teilreformen des Schulwesens. Die Verfasserin bezieht dankenswerterweise „schulschwache Schüler in Frankreich“, „jüdische Heilpädagogik und Wohlfahrtspflege“ und „Frauen in der Sonderpädagogik“ in ihre Darstellung ein. Im Kapitel „Rassenpolitik und gesellschaftliche Ausgrenzung“ (1933–1945) greift die Verfasserin auf viele eigene Vorstudien zurück und zeichnet ein differenziertes Bild, ohne Deformationen in den Biographien der NS-Zeit auszusparen oder zu beschönigen. Das Kapitel „Traumatisierung und Neuanfang“ nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1989) führt die Geschichte fast bis in unsere Zeit. Zwei Abschnitte widmet sie der alten Bundesrepublik, zwei der DDR. Im „Ausblick: Erfolge, Niederlagen, Gefährdungen“ nimmt die Verfasserin die eingangs angebotenen sechs Aspekte und aktuelle politische und ethische Fragen der Heilpädagogik auf und blickt noch einmal auf ihren „Streifzug durch die Geschichte der Sonderpädagogik“ (S. 333) zurück. Da der Arbeit ausgedehnte Quellenstudien zu Grunde liegen, lassen sich die ausführlichen Zitate mit Gewinn als Quellentexte lesen und laden zu eigenen Entdeckungen ein. Während der Integrationsdebatte der 1970er und 1980er Jahre machte sich Jakob Muth um den Dialog von allgemeiner Pädagogik und Heilpädagogik verdient. Das Projekt von Elmar Tenorth und der Verfasserin an der Humboldt-Universität könnten dem Gespräch neue Impulse geben. Es bildet zur allgemeinen Pädagogik hin eine tragfähige Brücke, die es verdient, weiter ausgebaut zu werden. Widersprüche könnten Anreiz auch für systematische Fragen der Pädagogik sein, (Anmerkung 4) wobei Missverständnisse im Überschneidungsfeld von Sonderpädagogik und Pädagogik nicht nur von Nachteil zu sein brauchen, sondern zur Klärung einladen. Ich will im Folgenden auf eines hinweisen. Die Verfasserin stellt zunächst zustimmend fest, dass „Möckel die Geschichte der Heilpädagogik im Referenzsystem von Pädagogik schlechthin thematisiert“, meint dann aber doch, ich verharrte „in einem eingeschränkten behindertenpädagogischen Referenzsystem“ (S. 15) und begründet das mit drei Argumenten. „Indem Möckel allerdings seinen Blick auf das Scheitern in der Erziehung richtet, Versagen als zentrale Fragestellung wählt, ferner sein Augenmerk vor allem auf die Entstehung und Entwicklung ‚der ersten, bahnbrechenden Institutionen‘ … für behinderte Schüler lenkt und schließlich Heilpädagogik eher als Gegenentwurf (so gegen Rousseau), nicht jedoch als komplementäres oder gar einheitsstiftendes Element der allgemeinen Pädagogik ansieht, verharrt er letztlich, so scheint uns, notwendigerweise in einem eingeschränkten behindertenpädagogischen Referenzsystem“ (S. 15). Zunächst ist festzuhalten, dass Ellger-Rüttgardt den Referenzrahmen für eine Geschichte der Heilerziehung wie ich in der Pädagogik sieht. Worauf sie in ihren Einwänden hinweist, belegt jedoch, anders als sie vermutet, dass ich mich streng an meine eigene Vorgabe gehalten habe. „Scheitern“ und „Versagen“, sind keine ausschließlich heilpädagogischen Kategorien, sondern integrale Bestimmungen der Bildsamkeit. Herbart sah die „dunkle Seite der Pädagogik“, arbeitete diesen Gedanken aber nicht in der Richtung einer „Heilpädagogik“ aus, die sich damals auf die Taubstummen- und Blindenpädagogik hätte stützen können. Es gibt zwar eine „pädagogische Psychologie“, aber keine „psychologische Pädagogik“. Heilpädagogik ist ein von der Universitätspädagogik distanziert wahrgenommener, unverstandener Ersatz dafür. Ambivalenz gehört zur Pädagogik, das Paradoxe wohnt ihr inne. Scheitern und Versagen gehören notwendig zum pädagogischen Geschäft. Beide belegen nicht nur, dass Heilpädagogik „Pädagogik ist und nichts anderes“, sondern auch umgekehrt, dass Pädagogik Heilpädagogik sein sollte und nichts Anderes. Diesen Punkt verfehlte die Pädagogik nach Rousseau, deren Theorien die Heilerziehung daher nie einholen konnte, sondern draußen vor der Tür beließ. Heilerziehung entstand über Grenzerfahrungen der Erzieher und gerade nicht über Grenzerfahrungen lernender Kinder. Vielleicht war sie ungewollt eine Kränkung des Gedankens der Perfektibilität. Die heilpädagogischen Institutionen lassen dieses integrale und konstitutive Moment der Pädagogik gut erkennen, besonders dann, wenn man sie in den Zusammenhang mit Volksschulen, Industrieschulen und der Nationalschulidee in allen ihren Formen (Allgemeine Volksschule, Einheitsschule, Gesamtschule) stellt. Wie unter dem Vergrößerungsglas wird sichtbar, dass Heilerziehung ein zweiter Anfang nach dem Versagen, und zwar – noch einmal sei es betont – nicht der Kinder-, sondern der Erwachsenengeneration ist. Erziehungsinstitutionen bezwecken nichts Anderes, als einmal gefundene Erziehung- und Unterrichtsmethoden auf Dauer zu stellen. Unterschiedliche Institutionen im Schulpflichtalter sollen Wege zu gleichen Zielen sein. Darin liegt so wenig ein Widerspruch wie in der Gliederung der Schulen nach Altersstufen. Institutionen sind daher als pädagogische Methoden von Interesse, nicht an sich. Methoden wiederum gelten ihrem Wesen nach auf Zeit und sind widerrufbar. Ich habe die Institutionen funktional behandelt, nicht an sich. Der Begriff „Heilpädagogik“ gibt dazu jede Freiheit. Der dritte Einwand, ich sähe in der Heilpädagogik kein einheitsstiftendes Element der Pädagogik, erstaunt mich besonders. Wenn man Heilpädagogik ins Zentrum der Pädagogik stellt, muss man „Bildung“ und „Bildsamkeit“ neu interpretieren. Ich stimme den Analysen von Elmar Tenorth für die Anfänge im 18. Jahrhundert weitgehend zu. Frau Ellger-Rüttgardt folgt ihm. (Zur Argumentationslinie Tenorths „Transformation und Deformation“ der Idee der Bildsamkeit möchte ich mich allerdings hier nicht äußern, sondern nur ein Fragezeichen dahinter setzen.) (Anmerkung 5) Elmar Tenorth sagt richtig, „die Metaphorik der ‚Erfindung‘“ beschreibe „die Praxis der Pädagogik, und zwar generell“ (Anmerkung 6) und fügt hinzu, sie sei „ein generelles Merkmal neuzeitlicher Pädagogik“.(Anmerkung 7) Dem kann man mit der Einschränkung zustimmen: So sollte es sein. Die Geschichte der Heilerziehung zwingt – wenn das Wort gestattet ist – dazu, einen Schritt weiter zu gehen. Pädagogik, das zeigt Heilpädagogik, erfindet nicht einfach eine immer bessere Technik der Erziehung, sondern sie erfindet Neues auf der Grundlage ihres eigenen Scheiterns oder, wenn man es freundlich ausdrücken will, in der Überschreitung ihrer Grenzen. Noch einmal: Es geht nicht um das Scheitern der lernenden Kinder, sondern der verantwortlichen Generation für Unterricht und Erziehung zusamen mit den Kindern. Tenorth fasst zusammen: „In dieser Konstruktion, die Naturannahmen und pädagogische Technologie zur Einheit bündelt, liegt die wesentliche Erfindung der Pädagogik der Behinderten und es ist die Idee der Bildsamkeit, die beide Referenzsysteme zur Einheit einer selbständigen Praxis bringt.“(Anmerkung 8) „Naturannahme“ und „Technologie“ – ja gewiss. Aber pädagogische Erfindungen sind nie bloße Ausdehnungen der Pädagogik in die Kindheit oder in das Alter hinein oder auf neue Problemfelder, sondern – bildlich ausgedrückt – immer Erfindungen auf pädagogischen Trümmern. Pointiert: Das pädagogische Denken von Bildung und Bildsamkeit muss sich nach seinen Bankrotten immer wieder neu erheben. Damit nicht nur mehr oder weniger zufällig neue Erziehungs- und Unterrichtswege gefunden werden, muss die professionelle Pädagogik heute das Erfinden von pädagogischen Erfindungen lernen. Genau das fehlte der wissenschaftlich etablierten Pädagogik, um das Allgemeine und Besondere der Heilpädagogik als ihr eigenes Problem zu erkennen. Ob es heute besser ist, wage ich nicht zu behaupten. Pädagogik muss lernen, wann sie an pädagogischen Erfindungen und Institutionen festhalten und wann sie obsolet gewordene aufgeben und neue Wege suchen muss. Grundlegend ist, dass sie sowohl ihr tägliches als auch ihr epochales Scheitern als den Motor annimmt, um – eingedenk ihres Scheiterns – eine Pädagogik „semper reformanda“ zu werden. Was dann von der Heilerziehung an Separation vom Kindergarten bis zur Universität übrigbleibt, ist – hoffentlich – „nur noch“ vernünftige pädagogische Arbeitsteilung. Das ist jedoch immer noch viel und eröffnet neue praktische und theoretische Aufgaben. Ich hoffe, dass Sieglind Ellger-Rüttgardt dieser Auslegung des Referenzrahmens Pädagogik für die Geschichte der Heilpädagogik zustimmen kann. Prof. Dr. Andreas Möckel, Würzburg
(Anmerkung 1) Schwerpunktprogramm (SPP-Projekt) der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) „Bildsamkeit und Behinderung. Die Erweiterung von Idee und Praxis der Bildsamkeit durch die ‚Entdeckung‘ der Bildbarkeit Behinderter“. Das Projekt ist Teil eines größeren Programms, s. Lutz Raphael & Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) (2006). Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. München: Oldenbourg.
|
|
![]() |
|
![]() |
|
aktualisiert am 22.08.2009 |