Heilpädagogische Forschung

Rezension Heft 2 Jahrgang 2009

Simon, T. und Weiss, G. (2008) (Hrsg.). Heilpädagogische Spieltherapie. Konzepte – Methoden – Anwendungen. Stutt-gart: Klett-Cotta, 301 Seiten, € 25,90.

Hier liegt ein Buchband zur Heilpädagogischen Spieltherapie vor, der ein breites Spektrum von Sichtweisen, Konzepten und Anwendungen enthält.

Im einleitenden Grundlagenkapitel werden die Arbeiten von Hildegard Just aus den siebziger Jahren gewürdigt. Danach stellt Thomas Hensel die ‚Personzentrierte Spieltherapie als Grundlage‘ mit den Rogers-Konzepten gekonnt dar. Weiterhin gibt es dann Ausführungen zur ‚therapeutischen Praxis‘, zur Heilpädagogischen Diagnostik als unabdingbarem Teil heilpädagogischen Handelns und schließlich zur ‚Aktuellen Konzeption‘, wo der fachliche Status der Heilpädagogischen Spieltherapie abgehan-delt wird. Im weiteren Kapitel ‚Systemische Implikationen‘ werden systemische Perspektiven und Techniken skizziert, bevor Übertragungen auf die Heilpädagogische Spieltherapie versucht werden.

Im Teil II des Buches sind unterschiedliche, teilweise sich ausschließende ‚Ergänzende therapeutische Methoden‘ wie Verhal-tenstherapie, Psychodrama, Kunsttherapie, Geschichtenerzählen, Sandkastentherapie, Zaubern und Entspannung zu finden. Das dann folgende Kapitel zum Kinderpsychodrama enthält praktische Tipps zur Verwendung von Psychodramatechniken in der Einzelspieltherapie. Auch im kunsttherapeutischen Kapitel finden sich viele praktische Tipps, deren Umsetzung allerdings kunsttherapeutische Fachkompetenz erforderlich macht. Der Abschnitt ‚Therapeutische Geschichten‘ enthält auf knappem Raum die wesentlichen Grundlagen von Metaphergeschichten, angereichert um Fallgeschichten.

Auch das Kapitel zur Sandspieltherapie ist sehr lesenswert, werden hier doch einige Anregungen für die Einbettung in die Spieltherapie gegeben. Hinsichtlich der Auswertung von Sandbildern muss natürlich in einem so kurzen Beitrag vieles offen bleiben. Den Entspannungsverfahren ist ein weiterer kürzerer Abschnitt gewidmet, und hier finden sich interessante Anregun-gen, wie sich Entspannungsanleitungen in eine Heilpädagogische Spieltherapie einbauen lassen.

Teil III des Buches ‚Anwendungsfelder‘ beschäftigt sich zuerst mit Bindungsstörungen, dann mit ADHS und schließlich mit Wahrnehmungsstörungen und Störungen aus dem Autismusspektrum. Das dann folgende Kapitel über ‚Multiproblemfamilien‘ enthält wichtige – und extrem ernüchternde Informationen zu den Belastungen, Dysfunktionen, Verstrickungen etc. dieser Fa-milien.

Teil IV mit dem Obertitel ‚Qualitätssicherung‘ besteht aus dem einzigen Beitrag ‚Qualitätssicherung als Notwendigkeit‘ mit den Abschnitten Psychotherapieforschung und Qualitätssicherung, Therapieforschung bei Kindern und Jugendlichen und Stu-dien zur Heilpädagogischen Spieltherapie. Wenn man bedenkt, wie wenig zur heilpädagogischen Spieltherapie bisher veröffent-licht worden ist, muss man dankbar dafür sein, dass hier wenigstens ein Anfang gemacht worden ist, Qualitäten zu kontrollie-ren; fürwahr ein Anfang, denn mit Stichprobengrößen von 38 Familien und 13 Kindern und den zugegebenerweise ‚konzeptio-nellen und methodischen Unzulänglichkeiten‘ kann natürlich von Qualitätssicherung noch nicht die Rede sein, aber immerhin: Ein Anfang ist gemacht.

Es handelt sich insgesamt um eine Zusammenschau der seit Jahrzehnten andauernden Etablierung der Heilpädagogischen Spiel-therapie. Einige Beiträge sind wirklich lesenswert, andere Beiträge wären inhaltlich ergänzungsbedürftig. Die Heilpädagogische Spieltherapie als in der heilpädagogischen Praxis mit großer Frequenz angewandtes Verfahren ist allerdings bis zum heutigen Tage theoretisch mit der Folge unterbestimmt, dass fundierte Evaluationen nicht möglich sind. Dieser Umstand wird die heil-pädagogische Praxis allerdings weniger interessieren als die Vermittlung von Informationen zur praktischen technischen Um-setzung, wozu dieses Buch gute Dienste leisten wird.

Herbert Goetze, Berlin

 

Eckert, Andreas (2008): Familie und Behinderung – Studien zur Lebenssituation von Familien mit einem behinderten Kind. Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 328 Seiten, € 68,– ISBN 978-3-8300-3810-8.

Die Geburt eines behinderten wie auch die eines nicht behinderten Kindes stellt ein kritisches Lebensereignis und einen hohen Belastungsfaktor für das Familiensystem dar. Bei der grundsätzlichen Entscheidung für ein Kind soll der Faktor Behinderung vermieden werden. Viele Familien, Paare, Mütter oder Väter fühlen sich dieser nochmals erhöhten Belastung nicht gewachsen und nutzen vermehrt die invasive Pränataldiagnostik, um bei eventueller Behinderung einen Schwangerschaftsabbruch vorzu-nehmen. Gestützt und beeinflusst werden sie durch das gesellschaftliche Wertesystem.

In dem zu rezensierenden Buch geht es um die Familien, die mit einem behinderten Kind leben. Andraes Eckert hat sich bereits lange Jahre in Theorie und Praxis mit der Lebenssituation dieser Familien auseinandergesetzt. Die Ergebnisse fließen mit in dieses Buch ein: So stehen im ersten Teil die Ressourcen und Bedürfnisse der Familien im Fokus, im zweiten Teil (gemeinsam mit Lara Palm) geht es um die Lebenssituation der Väter und im dritten Teil (gemeinsam mit Jessica Stieler) wird das Empo-werment dieser Familien im Internet untersucht. Alle drei Teile bestehen jeweils aus theoretischen Analysen und empirischer Forschung:

An der Studie „Ressourcen und Bedürfnisse im familiären Leben mit einem behinderten Kind – aus der Perspektive der Eltern“, durchgeführt mit einem standardisierten Fragebogen, haben 223 Mütter (N = 166) und Väter (N = 57) teilgenommen, die vornehmlich über Bekanntmachungen in Selbsthilfeorganisationen gewonnen werden konnten. Die Ergebnisse bestätigen vielfältige andere Untersuchungen und Theorieableitungen, geben aber mit dem expliziten Blickwinkel der Ressourcen und Bedürfnisse konkretere Ansatzpunkte für familienorientierte Arbeits- und Denkansätze. So liegen u. a. folgende Ergebnisse vor: Das Kohärenzgefühl der befragten Eltern ist vergleichsweise gering ausgeprägt. Dies betrifft vor allem die Komponente der Verstehbarkeit. Das Kohärenzgefühl steht wiederum im signifikanten Zusammenhang mit dem subjektiven Stresserleben: Je ausgeprägter das Kohärenzgefühl, desto niedriger die Bewertung des Stresserlebens. Bedürfnisse werden von den Eltern differenziert formuliert, Kontakt- und Kommunikationsbedürfnisse nehmen einen hohen Stellenwert ein. Eltern von geistig behinderten Kindern formulieren insbesondere Entlastungsbedürfnisse. Die Unterschiedlichkeit der Bewertung verschiedener Aspekte ist bei den Müttern und Vätern signifikant hoch. In der Konsequenz für familienorientiertes Arbeiten bedeutet dies u.a. eine gezielte Ressourcen- und Bedürfnisdiagnostik, eine Stärkung des Kohärenzgefühls und eine Erweiterung der Beratungsan-gebote.

Elternforschung war überwiegend Mütterforschung. Dies hat sich zwar durch inzwischen nicht wenige Studien zur Belastungs-situation der Väter von behinderten Kindern geändert, die Ergebnisse kommen jedoch kaum in der Praxis an. In der vorliegen-den Studie stehen die Belastungen (Partnerschaft, Charakteristika des Kindes, Gesellschaft) und die personalen und sozialen Ressourcen der Väter im Fokus. Die Stichprobe setzt sich aus den 57 Vätern der im Teil I (s. o.) beschriebenen Studie zu-sammen. Da eine Querschnittserhebung vorliegt, sind die Ergebnisse mit einer gebotenen Vorsicht zu interpretieren: So wurde u. a. eine generell hohe Stressbelastung der Väter ermittelt, mit der starken Tendenz einer höheren Belastung der Väter von Söhnen mit Behinderung als der von Vätern von Töchtern mit Behinderung. Eine Diagnosestellung innerhalb der ersten drei Lebensjahre des Kindes bedeutet signifikant hohen Stress, keine Belastung hingegen zeigt sich für die Partnerschaft und die außerfamiliäre Unterstützung. Als einzige ermittelte signifikante personale Ressource steht die Wahrnehmung eigener Bedürf-nisse und Interessen, überraschend, auch im Vergleich zu den Ergebnissen anderer Studien, ist die geringe Korrelation zwi-schen Stressbelastung und Kohärenzgefühl. Für die praktische Arbeit sollte u. a. über geschlechtsspezifische, stressreduzie-rende Angebote insbesondere um die Zeit der Diagnosestellung nachgedacht werden.

Teil III dieses Buches bietet mit der Website www.elterninformieren.de eine konkrete heilpädagogische Hilfestellung insbeson-dere für die in den vorhergehenden Studien geäußerten Elternbedürfnissen nach Information, Kontakt und sozialen Netzwerk-bildungen an: Auf dieser Website sind alle Onlineangebote von Eltern behinderter Kinder (N = 243) nach den Oberkatego-rien „Elternvereine und -initiativen, private Websites und Behinderung, Syndrom, Erkrankung“ miteinander verlinkt. Dieser Website liegt eine qualitative Online-Inhaltsanalyse zu Grunde. Um dem Empowerment-Gedanken Rechnung zu tragen wurde anhand von 15 ausgewählten Eltern-Websites ein aus 18 Kategorien bestehendes System gebildet, welches dann als Fundament für die Erfassung und Systematisierung der Onlineangebote diente. Es bleibt zu hoffen, dass die Pflege, Aktualisierung und Evaluation der Website www.elterninformieren.de auch zukünftig durchgeführt wird.

Dieses Buch mit seinen drei Teilen ist „rund“: Es stellt ein breites, inhaltlich in den drei Teilen aufbauendes, Spektrum zum Thema „Familie und Behinderung“ dar. Es wird viel Engagement beim Autor und den jeweiligen Mitarbeiterinnen deutlich. Dies zeigen die umfangreichen Recherchen in Theorie und Praxis, sowie auch die Sorgfalt, Ausgewogenheit und Vorsicht in den Interpretationen der Ergebnisse bezeichnend ist. Der „Paradigmenwechsel“, Eltern mit ihren Bedürfnissen wie auch Res-sourcen als kompetente Partner ernst zu nehmen, bleibt keine Theorie, sondern schlägt sich nieder in der aktualisierten Erfas-sung der Bedürfnisse und Ressourcen und entsprechender Konzeptualisierung von Hilfsangeboten.

Auch wenn die Eltern der vorliegenden Studie durch ihre Mitgliedschaft in Elternvereinen und -initiativen bereits ein gutes Stück des Bewältigungsweges gegangen sind, so zeigen sie, dass in der heutigen Zeit ein Familienleben mit einem behinderten Kind insofern eine Herausforderung darstellt, als es nicht nur um die Akzeptanz der Behinderung des Kindes geht, sondern genauso um eine Veränderung des gesellschaftlichen Systems mit seinen Denk- und Handlungsebenen.

Dr. Martina Schlüter, Köln


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aktualisiert am 10.07.2009