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Rezension Heft 1 Jahrgang 2009Hackenberg, W. (2008). Geschwister von Menschen mit Behinderung. Entwicklung, Risiken, Chancen. Müchen: Reinhardt Verlag, 160 Seiten, € 19,90. Das Thema der Geschwister von Menschen mit einer Behinderung hat erstmals in den 1980er Jahren durch eine von Waltraud Hackenberg veröffentlichte Querschnittsstudie mit Geschwisterkindern sowie eine ebenfalls von ihr sieben Jahre später publizierte Längsschnittstudie Einzug in den fachlichen Diskurs der deutschsprachigen Heil- und Sonderpädagogik gehalten. In den folgenden zwei Jahrzehnten erhielt die Geschwisterthematik vermehrt fachliche Aufmerksamkeit, zum einen sicherlich angestoßen durch die „Pionierarbeiten“ Hackenbergs, zum anderen durch den Zugewinn eines systemischen Blicks auf die Familie von Menschen mit einer Behinderung. Zur gegenwärtigen Situation vorliegender Publikationen lässt sich in Anbetracht dieser Entwicklungen resümieren, dass dem thematisch interessierten Leser aktuell zahlreiche primär praxisnahe Publikationen vorliegen (u.a. Achilles 2005, Grünzinger 2005, Haberthür 2005, Winkelheide 2007). Diese bieten anhand der Beschreibung und Analyse der besonderen familiären Situation, der individuellen Erfahrungen und des persönlichen Erlebens von Geschwistern sowie der Darstellung spezifischer professioneller Angebote (u.a. Geschwisterseminare) einen hohen Erkenntnisgewinn und Praxisnutzen. Gleichzeitig lässt sich jedoch festhalten, dass bis in die Gegenwart dem wissenschaftlich interessierten Leser nur wenige deutschsprachige Publikationen zur Entwicklung der heil- und sonderpädagogischen „Geschwisterforschung“ vorliegen. Eine Ursache dieser Publikationslücke liegt im mangelnden Transfer der primär in englischsprachigen Wissenschaftsraum stattfindenden Forschungsbemühungen in den hiesigen Kontext. Mit ihrem aktuellen Buch „Geschwister von Menschen mit Behinderung. Entwicklungen, Risiken und Chancen“ greift Waltraud Hackenberg, Professorin für Sonderpädagogische Psychologie und Frühförderung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, nach einer mehr als zwanzigjährigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschwisterthematik genau diese Lücke auf und legt ein bislang in dieser Komplexität und Aktualität fehlendes Grundlagenwerk zur Geschwistersituation im Leben mit einer Schwester oder einem Bruder mit einer Behinderung vor. Die Monographie ist sehr übersichtlich gestaltet und widmet sich in fünf Kapiteln in einem sehr leserfreundlichen Schreibstil grundlegenden Aspekten der Geschwisterthematik. Die zentrale Intention des Buches liegt nach Hackenberg in dem Vorhaben, „die Situation, das Erleben und die Verarbeitungsformen von Menschen, die ein behindertes Geschwister haben, auf dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes“ (S.10) darzustellen und zu diskutieren. Die Einbeziehung internationaler Forschungsergebnisse erhält dabei einen hohen Stellenwert. Im ersten Kapitel des Buches gibt Frau Hackenberg einen sehr differenzierten Überblick über die „Bedeutung der Geschwisterbeziehung in der individuellen Entwicklung und im gesellschaftlichen Kontext“. Im Vordergrund dieses Kapitels steht die Darstellung des aktuellen Standes der Geschwisterforschung zum Kinder-, Jugendlichen- und Erwachsenenalter, zunächst losgelöst von der Thematik der Behinderung eines Geschwisters. Berücksichtigung erfährt in diesem Kontext neben der Relevanz der Geschwisterbeziehung für die persönliche Entwicklung zudem die gesellschaftliche Bewertung der in der Regel „längste[n] Beziehung des menschlichen Lebens“ (S.10). Die Schwerpunktsetzung des zweiten Kapitels, betitelt mit der Frage „Was bedeutet ein behindertes Kind für die Familie?“, verdeutlicht die systemische Perspektive, die Frau Hackenberg als eine wissenschaftliche Grundlage für ihre Bearbeitung der Geschwisterthematik nutzt. Aktuelle Forschungsergebnisse aus dem nationalen und internationalen Wissenschaftsdiskurs aufgreifend erfolgt in diesem Kapitel eine fundierte, gleichzeitig prägnant zusammengefasste Betrachtung des für die Untersuchung der Geschwistersituation sehr gewichtigen Kontextfaktors „Familie mit einem behinderten Kind“. Es gelingt Frau Hackenberg in diesem Rahmen sehr gut, anhand neuerer Forschungsergebnisse die Bedeutsamkeit einer Ressourcenorientierung in der Auseinandersetzung mit der familiären Situation zu untermauern. Basierend auf dem Grundlagenwissen der vorangegangenen Ausführungen bilden das dritte und vierte Kapitel den zentralen inhaltlichen Schwerpunkt der Monographie. Sie widmen sich der Geschwistersituation im Falle des Vorliegens einer Behinderung, sowohl in Hinblick auf das Kindes- und Jugendalter als auch den weiteren Lebensverlauf. Auf mehr als 50 Seiten beschreibt und interpretiert Frau Hackenberg die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen und Meta-Analysen zu unterschiedlichen Themenaspekten der Geschwisterthematik. Betrachtet werden in diesem Kontext u.a. Besonderheiten der Geschwistersituation, familiäre und gesellschaftliche Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Geschwister und ihrer Beziehungen sowie der Verlauf erforderlicher Bewältigungsprozesse. Die explizite Berücksichtigung des Erwachsenenalters sowie die wiederholte Einbeziehung des Faktors der Behinderungsform stellen eine weitere wichtige Ergänzung zur bislang geführten wissenschaftlichen Diskussion dar. Das fünfte Kapitel befasst sich schließlich mit der Gestaltung spezifischer „Hilfen für Geschwister von Menschen mit Behinderung“. Eine besondere Bedeutung spricht Frau Hackenberg an dieser Stelle neben spezifischen Freizeitangeboten der professionellen Beratung der Familie zu. Bezogen auf die Kooperation mit Familien gibt sie die Empfehlung, in Gesprächen mit Eltern behinderter Kinder der „Situation der Geschwister regelmäßig einen Platz“ zu geben (S.127) und entwirft einen Katalog möglicher Geschwisterthemen in der Elternberatung. Resümierend lässt sich das Buch „Geschwister von Menschen mit Behinderung. Entwicklung, Risiken und Chancen“ von Waltraud Hackenberg als ein gelungenes Grundlagenwerk bezeichnen, das einen differenzierten Überblick über den aktuellen Forschungsstand gibt und zugleich eine Vielzahl an Anregungen sowohl für die praktische Arbeit mit Geschwistern und Familien als auch für weitere Forschungsaktivitäten beinhaltet. Dr. Andreas Eckert, Köln
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aktualisiert am 27.04.2009 |