Heilpädagogische Forschung

Rezensionen Heft 3 Jahrgang 2008

Barsch, Sebastian (2007). Geistig behinderte Menschen in der DDR. Erziehung – Bildung – Betreuung. Oberhausen: Athena-Verlag 2007, 238 Seiten, 34,50 €.

Sebastian Barsch widmet sich mit dieser Publikation (Dissertation an Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln) in einer ganzheitlichen Vorgehensweise der Beschreibung der Lebenswirklichkeit von Menschen mit so genannter geistiger Behinderung in der SBZ bzw. der DDR in der Zeit von 19945-1989/90.
Im einleitenden Kapitel wird der Anspruch des Autors deutlich, eine bildungsgeschichtliche Analyse des Umgangs mit Menschen mit geistiger Behinderung in der SBZ/DDR vor dem Hintergrund rechtlicher, ideologischer und institutioneller Rahmenbedingungen vornehmen zu wollen. Nach einem einführenden thematischen Problemaufriss erfolgen zunächst begriffliche und definitorische Annäherungen: Es werden das „Konstrukt geistige Behinderung“, der disziplinäre Terminus Rehabilitationspädagogik – in Abgrenzung zu Heilpädagogik, Sonderpädagogik und Behindertenpädagogik – sowie der Bildungs- und Erziehungsbegriff in der SBZ/DDR geklärt. Ferner geht der Autor auf den zu betrachtenden Personenkreis und die bisherige Forschungslage zur Untersuchung des Betreuungs- und Bildungswesens in der SBZ/DDR ein. Hier kristallisiert sich heraus, dass bislang lediglich eine fragmentarische und spezifische Aufarbeitung dieser Thematik stattgefunden hat. Herr Barsch versucht mit seiner Publikation diese Lücke zu schließen, in dem auf der Basis folgender drei Methoden eine komplexe Analyse des Bildungs- und Betreuungswesens vorgenommen wird:
1. Analyse zeitgenössischer Literatur der DDR
2. Analyse von diversen öffentlichen und privaten Archivbeständen
3. Problemzentrierte Interviews mit Zeitzeugen
Die folgenden Kapitel verkörpern die Untersuchungsergebnisse, die inhaltlich in vier komplexe Bereiche zusammengefasst werden:
Innerhalb des zweiten Kapitels wird der Leser über die Strukturen des Bildungs- und Gesundheitswesen in der SBZ in der Nachkriegszeit informiert. Der Fokus liegt hier auf dem Wiederaufbau des Sonderschulwesens.
Das dritte Kapitel ist den politisch-ideologischen Leitlinien des Aufbaus des Behindertenwesens in der DDR gewidmet. Der Autor klärt hier das Verständnis von Behinderung und den Umgang mit Menschen mit Behinderung vor dem Hintergrund der sozialistischen Theorie und der sozialistischen Erziehung sowie deren Auswirkungen auf die Rehabilitationspädagogik.
Innerhalb des vierten Kapitels werden die Rechtsvorschriften und die rechtlichen Normen hinsichtlich der Erfassung von Kindern mit Behinderungen und der folgenden Beschulung, Förderung oder Verwahrung dargelegt. Es wird dezidiert auf Sonderschulverordnungen sowie Schulpflicht-, Sozial- und Arbeitsgesetze der DDR und ihrer Konsequenzen eingegangen. In einer abschließenden tabellarischen Übersicht werden markante Gesetze und Erlasse der DDR und der BRD vergleichend und wertend gegenübergestellt. Wenngleich – nach Barsch – die Gesetzesforderungen nicht zwingend Rückschlüsse auf die reale Lebenssituation zuließen, konnte man doch erkennen, „dass sich zumindest das Problembewusstsein für Lebenssituation geistig behinderter Menschen in der DDR auch in einem kontinuierlichen Prozess befand, der auf Optimierung ausgerichtet war“ (S.97).
Das fünfte Kapitel gibt einen differenzierten Einblick in das institutionelle Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungswesen in der DDR. Hier werden sowohl staatliche, als auch kirchliche Organisationen beschrieben. Differenziert geht Barsch auf die diagnostischen und didaktischen Grundlagen des Hilfsschulwesens ein. Auch die Bereiche Wohnen und Arbeiten werden skizziert.
Im sechsten Kapitel erhält der Leser einen Einblick in die Alltagswirklichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR aus 2 Perspektiven:
1. Es wird die Biografie von Hermine Fraas (einer Frau mit Down-Syndrom) als Einzelfallbeispiel nachgezeichnet.
2. Es findet eine Beschreibung des Lebens von Menschen mit geistiger Behinderung in stationären Einrichtungen an Beispielen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Rodewisch und des Oberlinhauses in Potsdam statt.
Das siebte Kapitel besteht aus einer reflexiven Zusammenfassung, aus der deutlich wird, dass in der SBZ/DDR lange Zeit medizinische Sichtweisen zum Phänomen Geistige Behinderung in Wissenschaft, Recht und Alltag der betreffenden Personen dominant waren. Auch resümiert Barsch hier, dass eine Kluft zwischen dem politisch deklarierten Anspruch auf Betreuung und Förderung für alle Menschen mit geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung und der Alltagswirklichkeit gab. Dieser Personenkreis lebte z.T. unter unzumutbaren Lebensbedingungen in der Psychiatrie, wenngleich ein systematischer Missbrauch in der DDR nicht nachzuweisen ist. Abschließend fasst der Autor seine Rechercheergebnisse in acht zentralen Thesen zusammen. Wichtig bleibt auch die Erkenntnis, dass eine rein negative Bewertung der Rehabilitationspädagogik in der DDR wesentlich zu kurz greift und es – im Kontext der allgemeinen Vielschichtigkeit, welche das Betreuungswesens ausmachte – viele positive Ansätze gab, die im Zuge der Wiedervereinigung verloren gingen. Eine Interpretation der Lebenswirklichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung „rein aus dem Blickwinkel der Analyse des politischen Systems der DDR greift zu kurz“ (S. 220).
Diese Publikation gibt dem Leser einen sehr differenzierten und umfassenden Einblick in die Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung in der SBZ/DDR. Es gelingt Barsch, ein anschauliches Bild und damit eine detaillierte Vorstellung von den Strukturen des Bildungs- und Betreuungswesens für diesen Personenkreis in der DDR nachzuzeichnen. Stellenweise überfordern die Aussagen in ihrer Detailliertheit den Leser zwar ein wenig, aber genau in dieser Komplexität und Vielschichtigkeit liegt gleichsam auch die Stärke der Lektüre. Geschichtlich Interessierten wird hiermit ein fundierter Überblick über die organisatorischen Strukturen und die Alltagsrealität für Menschen mit geistiger Behinderung in der SBZ/DDR gegeben.

Saskia Schuppener, Leipzig

Fröhlich-Gildhoff, Klaus (2007). Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen - Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten. Stuttgart: Kohlhammer, 308 Seiten, € 28.-. ISBN 978-3-17-018737-5.

Buchpublikationen über Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen gibt es derzeit in nicht geringer Zahl, was also macht das Besondere dieser Veröffentlichung aus? Die Veröffentlichung richtet sich an viele Lesergruppen, Zielgruppe sind v.a. Bachelor-Studierende an Fachhochschulen und Universitäten im ‘Modul angewandter Psychologie’, wie in der Einleitung nachzulesen ist.
Überblickt man das Inhaltsverzeichnis und liest man sich in die Texte ein, so bekommt man den Eindruck: Das Buch wird den eingangs gestellten Ansprüchen sehr gerecht. In systematischer, ansprechender Weise werden Begriffsbestimmungen, Entstehungsbedingungen, Diagnostik, Zielgruppenprobleme und Interventionen abgearbeitet. Die Inhalte sind hochaktuell, der sprachliche Duktus angemessen. Didaktisch wohl durchdacht sind am Ende eines jeden größeren Abschnitts eine eingerahmte Zusammenfassung, Fragen zur Selbstüberprüfung und eine kommentierte Liste zu weiterführender Literatur.
Das Besondere dieses Buches ist, dass die aktuelle psychologische Basisliteratur eingearbeitet ist und dass die Leserschaft entsprechend ‘auf den Stand’ gebracht wird. Das Buch ist sehr verständlich geschrieben und bietet auch ein gut ausgearbeitetes Stichwortverzeichnis, mit dessen Hilfe sich Detailinformationen z.B. zu Einzelstörungen leicht auffinden lassen. Ein wenig störend wirken an manchen Stellen die ausführlichen Textzitate aus der Originalliteratur, und zwar auf dem Hintergrund, dass es sich um ein Lehrbuch und nicht um ein wissenschaftliches Review handelt. Von sonderpädagogischer Seite gesehen könnte man die mangelnde Einarbeitung sonderpädagogischer Literatur beklagen. So findet sich ein sehr lesenswertes Kapitel zur Diagnostik; Hinweise zur schulischen Förderdiagnostik sind jedoch nicht auffindbar. Aber hinsichtlich der Zielstellung des Buches handelt es sich hier um Marginalia. Die Lektüre dieses Buches ist insbesondere für die angezielte Lesergruppe sehr zu empfehlen.

Herbert Goetze, Schönwalde


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aktualisiert am 27.04.2009