Heilpädagogische Forschung

Rezensionen Heft 2 Jahrgang 2008

Nußbeck, Susanne (2007). Sprache - Entwicklung, Störungen und Interventionen. Module angewandter Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer, 200 Seiten, kt., € 25,00.

Die Autorin widmet sich in der vorliegenden Arbeit einem differenzierten Überblick über die Laut- und Schriftsprachentwicklung, mögliche Störungen im Kindes- und Erwachsenenalter sowie Interventionsmöglichkeiten einschließlich alternativer Kommunikationsmittel.
Die Arbeit selbst gliedert sich in sechs Kapitel. Im ersten Kapitel werden kurz, aber sehr prägnant, die Aspekte der Sprache und theoretische Zugänge (Komponenten der Sprache und das Sprachlernproblem) vorgestellt. Das zweite Kapitel widmet sich der Sprachentwicklung. Dabei wird der Spracherwerb im Säuglings- und Kleinkindalter mit den gut gelungenen Unterkapiteln Prosodie und Phonologie, Konzeptbildung und Lexikon sowie Pragmatik erläutert. Ebenfalls gehören noch dazu Syntax und Grammatik. Allerdings vermisse ich in dieser Darstellung die von H.-J. Motsch in seinem Buch (Kontextoptimierung( vertretenen Standpunkte. Interessant sind ebenfalls die anderen Unterkapitel Sprachentwicklung und -verarbeitung über die Lebensspanne, Schriftspracherwerb und Spracherwerb bei Zweisprachigkeit gestaltet. Im dritten, zwar sehr kurz gehaltenen, aber in der Aussage sehr aufschlussreichen Kapitel, wird auf die Ansprüche an die Wirksamkeit von Interventionen eingegangen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Beeinträchtigungen des Spracherwerbs und Interventionen. Vom Umfang der Ausführungen stellt es den Hauptteil dar. In geraffter, aber trotzdem gut verständlicher und interessanter Darstellungsweise wird die Sprachentwicklung bei kognitiver Beeinträchtigung (Sprachentwicklungsverzögerung, Sprachentwicklung bei geistiger Behinderung und genetischen Syndromen), die Sprachentwicklung bei Störungen aus dem Autismusspektrum, die Sprachentwicklung bei Hörstörungen, die Spezifische Sprachentwicklungsstörung, Aussprachestörungen(Artikulationsstörungen - phonetische und phonologische Störungen), Störungen des Redeflusses(Stottern, Poltern - warum nicht auch hier der Mutismus ?), kindliche Aphasie (wo bleibt in diesem Zusammenhang die kindliche Dysarthrie oder auch Dysarthrophonie genannt ?), der elektive Mutismus und Störungen des Schriftspracherwerbs ausgearbeitet. Das fünfte Kapitel gibt Auskunft über erworbene Sprachstörungen bei Erwachsenen. Es zeigt auch wieder kurz, aber prägnant, die wesentlichen Schwerpunkte bei der Aphasie auf. Das sechste Kapitel hat alternative Sprachsysteme zum Thema. Sie beinhalten in einem kurzen Überblick die Gebärdensprache und die Unterstützte Kommunikation.

Nach den fachlichen Ausführungen schließen sich ein sehr aussagefähiges Glossar, eine ausführliche Literaturübersicht und ein gutes Stichwortverzeichnis an.

Betrachtet man die Arbeit in ihrer Gesamtheit, so kann man sie als sehr gelungen ansehen. Alle Kapitel sind mit einem sehr umfangreichen Detailwissen versehen und bilden doch in sich abgeschlossene Darlegungen, die aber immer auf die Vor- und Nachfolgekapitel Einfluss nehmen. Untermauert werden die präzisen und in die Tiefe gehenden theoretischen Darlegungen von für die Praxis oft sehr relevante Beispiele.
Empfohlen werden kann dieses sehr komprimiert theoretisch und zugleich praxisnah dargestellte Buch allen interessierten Lesern.

Dr. Waldemar Lehmann, Universität Potsdam

 

Barsch, Sebastian (2007). Geistig behinderte Menschen in der DDR. Erziehung – Bildung – Betreuung. Oberhausen: Athena-Verlag, 238 Seiten, € 34,50.

Sebastian Barsch widmet sich mit dieser Publikation (Dissertation an Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln) in einer ganzheitlichen Vorgehensweise der Beschreibung der Lebenswirklichkeit von Menschen mit so genannter geistiger Behinderung in der SBZ bzw. der DDR in der Zeit von 1945-1989/90.

Im einleitenden Kapitel wird der Anspruch des Autors deutlich, eine bildungsgeschichtliche Analyse des Umgangs mit Menschen mit geistiger Behinderung in der SBZ/DDR vor dem Hintergrund rechtlicher, ideologischer und institutioneller Rahmenbedingungen vornehmen zu wollen. Nach einem einführenden thematischen Problemaufriss erfolgen zunächst begriffliche und definitorische Annäherungen: Es werden das „Konstrukt geistige Behinderung“, der disziplinäre Terminus Rehabilitationspädagogik – in Abgrenzung zu Heilpädagogik, Sonderpädagogik und Behindertenpädagogik – sowie der Bildungs- und Erziehungsbegriff in der SBZ/DDR geklärt. Ferner geht der Autor auf den zu betrachtenden Personenkreis und die bisherige Forschungslage zur Untersuchung des Betreuungs- und Bildungswesens in der SBZ/DDR ein. Hier kristallisiert sich heraus, dass bislang lediglich eine fragmentarische und spezifische Aufarbeitung dieser Thematik stattgefunden hat. Herr Barsch versucht mit seiner Publikation diese Lücke zu schließen, in dem auf der Basis folgender drei Methoden eine komplexe Analyse des Bildungs- und Betreuungswesens vorgenommen wird:
1. Analyse zeitgenössischer Literatur der DDR
2. Analyse von diversen öffentlichen und privaten Archivbeständen
3. Problemzentrierte Interviews mit Zeitzeugen

Die folgenden Kapitel verkörpern die Untersuchungsergebnisse, die inhaltlich in vier komplexe Bereiche zusammengefasst werden:
Innerhalb des zweiten Kapitels wird der Leser über die Strukturen des Bildungs- und Gesundheitswesen in der SBZ in der Nachkriegszeit informiert. Der Fokus liegt hier auf dem Wiederaufbau des Sonderschulwesens.

Das dritte Kapitel ist den politisch-ideologischen Leitlinien des Aufbaus des Behindertenwesens in der DDR gewidmet. Der Autor klärt hier das Verständnis von Behinderung und den Umgang mit Menschen mit Behinderung vor dem Hintergrund der sozialistischen Theorie und der sozialistischen Erziehung sowie deren Auswirkungen auf die Rehabilitationspädagogik.

Innerhalb des vierten Kapitels werden die Rechtsvorschriften und die rechtlichen Normen hinsichtlich der Erfassung von Kindern mit Behinderungen und der folgenden Beschulung, Förderung oder Verwahrung dargelegt. Es wird dezidiert auf Sonderschulverordnungen sowie Schulpflicht-, Sozial- und Arbeitsgesetze der DDR und ihrer Konsequenzen eingegangen. In einer abschließenden tabellarischen Übersicht werden markante Gesetze und Erlasse der DDR und der BRD vergleichend und wertend gegenübergestellt. Wenngleich – nach Barsch – die Gesetzesforderungen nicht zwingend Rückschlüsse auf die reale Lebenssituation zuließen, konnte man doch erkennen, „dass sich zumindest das Problembewusstsein für Lebenssituation geistig behinderter Menschen in der DDR auch in einem kontinuierlichen Prozess befand, der auf Optimierung ausgerichtet war“ (S.97).

Das fünfte Kapitel gibt einen differenzierten Einblick in das institutionelle Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungswesen in der DDR. Hier werden sowohl staatliche, als auch kirchliche Organisationen beschrieben. Differenziert geht Barsch auf die diagnostischen und didaktischen Grundlagen des Hilfsschulwesens ein. Auch die Bereiche Wohnen und Arbeiten werden skizziert.

Im sechsten Kapitel erhält der Leser einen Einblick in die Alltagswirklichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR aus 2 Perspektiven:
1. Es wird die Biografie von Hermine Fraas (einer Frau mit Down-Syndrom) als Einzelfallbeispiel nachgezeichnet.
2. Es findet eine Beschreibung des Lebens von Menschen mit geistiger Behinderung in stationären Einrichtungen an Beispielen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Rodewisch und des Oberlinhauses in Potsdam statt.

Das siebte Kapitel besteht aus einer reflexiven Zusammenfassung, aus der deutlich wird, dass in der SBZ/DDR lange Zeit medizinische Sichtweisen zum Phänomen Geistige Behinderung in Wissenschaft, Recht und Alltag der betreffenden Personen dominant waren. Auch resümiert Barsch hier, dass eine Kluft zwischen dem politisch deklarierten Anspruch auf Betreuung und Förderung für alle Menschen mit geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung und der Alltagswirklichkeit gab. Dieser Personenkreis lebte z.T. unter unzumutbaren Lebensbedingungen in der Psychiatrie, wenngleich ein systematischer Missbrauch in der DDR nicht nachzuweisen ist. Abschließend fasst der Autor seine Rechercheergebnisse in acht zentralen Thesen zusammen. Wichtig bleibt auch die Erkenntnis, dass eine rein negative Bewertung der Rehabilitationspädagogik in der DDR wesentlich zu kurz greift und es – im Kontext der allgemeinen Vielschichtigkeit, welche das Betreuungswesens ausmachte – viele positive Ansätze gab, die im Zuge der Wiedervereinigung verloren gingen. Eine Interpretation der Lebenswirklichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung „rein aus dem Blickwinkel der Analyse des politischen Systems der DDR greift zu kurz“ (S. 220).

Diese Publikation gibt dem Leser einen sehr differenzierten und umfassenden Einblick in die Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung in der SBZ/DDR. Es gelingt Barsch, ein anschauliches Bild und damit eine detaillierte Vorstellung von den Strukturen des Bildungs- und Betreuungswesens für diesen Personenkreis in der DDR nachzuzeichnen. Stellenweise überfordern die Aussagen in ihrer Detailliertheit den Leser zwar ein wenig, aber genau in dieser Komplexität und Vielschichtigkeit liegt gleichsam auch die Stärke der Lektüre. Geschichtlich Interessierten wird hiermit ein fundierter Überblick über die organisatorischen Strukturen und die Alltagsrealität für Menschen mit geistiger Behinderung in der SBZ/DDR gegeben.

Prof. Saskia Schuppener, Universität Leipzig


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aktualisiert am 27.04.2009