Heilpädagogische Forschung

Rezensionen Heft 3 Jahrgang 2006

Uhrlau, Kathrin (2006). „Es war eine harte Schule“ – Menschen mit Körperschädigungen ziehen Bilanz aus ihrer Schulzeit in der Allgemeinen Schule. Eine qualitative Studie auf systemtheoretischer Basis als Beitrag zu einer Individuum bezogenen Schulentwicklung. Oldenburg: Universitätsverlag. 330 Seiten. 12 €.

Im Zentrum des Inhalts dieses Buches stehen zwölf Personen im zum Zeitpunkt der Befragung Alter von 20–32 Jahren mit einer sichtbaren Körperschädigung, die retrospektiv ihre Schulzeit betrachten. Eine Schulzeit, die sie an der Allgemeinen Schule, fast ausschließlich neben der Grundschule am Gymnasium, ohne erhobenen sonderpädagogischen Förderbedarf verbracht haben. Analysiert werden die persönliche und die soziale Ebene sowie die Ebene der Schulorganisation. Gefragt wird also konkret nach schädigungsbedingten Erschwernissen, den Copingstrategien und dem Erleben der Schulzeit verbunden mit den persönlich wahrgenommenen Handlungsweisen der Eltern, Lehrer und Mitschüler. Die Fragen nach der Schulorganisation klären, inwiefern die individuellen Bedarfe gedeckt wurden.

Die Ergebnisse sind vielfältig: Alle Personen erfahren ablehnende Reaktionen unterschiedlichster Art und die schulorganisatorischen Bedarfe werden überwiegend nicht gedeckt. Dabei werden neun Typen herausgearbeitet, die durch Abstufungen der Reaktionen der Sozialsysteme Familie und Schule (Lehrer/ Mitschüler) gekennzeichnet sind. Es zeigt sich u.a., dass das Verhalten der Mitschüler mitbestimmt wird durch die Reaktion des Lehrers: Eine ablehnende Haltung des Lehrers gegenüber der körpergeschädigten Person bewirkt wenig positive Handlungen der Mitschüler gegenüber dieser. Ein stärkender Hintergrund durch die Familie hat wenig eindeutig positiven Einfluss auf das Verhalten der Mitschüler und Lehrer. Ebenso wird eine positive Grundhaltung der betroffenen Person als relativ unbedeutend in der Einflussnahme auf das Verhalten eingestuft. Die mangelnden schulorganisatorischen Bedarfe haben ihre krasseste Wirkung bei den Personen, die von Pflege abhängig sind. So kam es vor, dass betroffene Schüler bis zu 8 Stunden auf Toilettengänge verzichten mussten. Es gibt bei überwiegend negativen Komponenten durchaus positive Erlebnisse und Ergebnisse, die im Typ A mit positiv eingestellten Sozialsystemen zusammengefasst sind. Gekennzeichnet sind diese vor allem durch gute Kommunikationsstrukturen z.B. bei längeren Krankenhausaufenthalten oder auch bei Freizeitaktivitäten. Insgesamt bleibt fest zu halten, dass insbesondere das Gymnasium mit sehr starren Strukturen behaftet ist. Anpassungsleistungen werden fast ausschließlich von den betroffenen Schülerinnen und Schülern verlangt, die diesen auch teilweise bis an die körperlichen wie auch psychischen Grenzen nachkommen. Nachteilsausgleiche wie Zeitverlängerung bei Klausuren wurden selten von Seiten der Schule angeboten, Therapieangebote oder Ruheräume konnten gar nicht gewährt werden. Würde man jedoch die Schülerinnen und Schüler fragen, ob Sie ihre Schulzeit noch einmal an der Allgemeinen Schule absolvieren wollten, so würden, wie Katrin Uhrlau vermutet, die meisten von ihnen dieses bejahen. Denn elf der befragten zwölf Schüler und Schülerinnen haben die Hochschulreife und einer die „mittlere Reife“ als Abschluss erlangt. Die gebrachten Opfer scheinen sich bezüglich des schulischen Erfolges gelohnt zu haben!

Diese Arbeit findet ihre theoretische Verortung in der systemtheoretischen Tradition von Bateson mit der Fokussierung auf Kommunikation als die System bestimmende Organisationsstruktur. Kommunikation wird im weitesten Sinne als die Repräsentanz sozialen Lebens verstanden. Nur über Kommunikation kann sich eine Kultur weiterentwickeln, wenn die Elemente des sozialen Systems, hier die Schüler und die Lehrer, die Mitteilungen aufnehmen und mit systemeigenen Operationen verändern.

Eine „harte Schule“ ist keine gute Schule. Notwendige Veränderungen z.B. in der Lehrerbildung und -fortbildung u.a. mit Blick auf Kooperationskompetenz werden aufgedeckt. Ziel ist es Kommunikationsstrukturen in einem Schulethos zu verankern, die Mitsprache und Verantwortung aller für den Bildungsprozess zulässt.

Katrin Uhrlau gelingt es vor allem in der eigenen Untersuchung aber auch in den theoretischen Überlegungen die entscheidenden Fakten herauszufiltern. Es ist ein wichtiger Beitrag zu der Forschung mit Menschen mit Körperbehinderung und nicht über Menschen mit Körperbehinderung. Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Forschungsansatz durchsetzen wird! Dies sei auch noch einmal von jemandem betont, der „diese harte Schule“ in der Generation davor mitgemacht hat. Auch wenn ich diese Zeit überwiegend positiv erinnere, weil ich zu dem Typ A gehörte und viele Dinge „auf meiner Seite“ waren, so kommt mir retrospektiv auch nach 30 Jahren noch Vieles bekannt vor. So ist z.B. der Sportunterricht ein gutes Kriterium für kreative Lösungen. Das Spektrum reicht von der „bloßen Befreiung“, über „auf der Bank sitzen“, „Mitmachen beim Schwimmen“ bis hin zu „Schiedsrichterfunktionen bei Ballspielen“. Ein Buch für alle zu empfehlen, die an Schule und Schulgestaltung unabhängig von vorliegenden Schädigungen im Sinne einer „Schule für alle“ interessiert sind.

Dr. Martina Schlüter, Köln

Ahrbeck, Bernd & Rauh, Bernhard (Hrsg.) (2004). Behinderung zwischen Autonomie und Angewiesensein. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. 192 Seiten.
24 €.

Das vorliegende Buch schließt zum einen an die Monografie eines der beiden Herausgeber, Bernd Ahrbeck, mit dem Titel „Kinder brauchen Erziehung“ (Stuttgart 2004) an. Darin arbeitet der Autor die „Erziehungsvergessenheit“ in der heutigen Zeit kritisch heraus. Weil Kinder und Jugendliche einseitig als Akteure und Gestalter ihrer eigenen Entwicklung betrachtet werden und ihr Angewiesensein auf „konturierte pädagogische Bezugspersonen“ in den Hintergrund rückt, fehlt es ihnen oftmals an verantwortlichen Erwachsenen, die sich sorgend und zugleich konfliktbereit auf sie einlassen.

Zum Anderen bezieht sich das Buch auf die Idee der Selbstbestimmung, die im letzten Jahrzehnt zu einer zentralen normativen, handlungsleitenden Kategorie in der Heil- und Sonderpädagogik, der Behindertenhilfe und der ihr zugrunde liegenden Gesetzgebung (siehe Sozialgesetzbuch IX) avancierte. Angesichts einer langen Tradition paternalistisch-bevormundender Tendenzen in der ‚Behindertenbetreuung', die besonders Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung häufig in eine „entmündigende Abhängigkeit“ gebracht haben (so im Text auf dem Buchrücken), erscheint die Favorisierung des ‚neuen Paradigmas‘ Selbstbestimmung verständlich und notwendig. Gleichwohl sind mit dem Selbstbestimmungs-Paradigma im Blick auf die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen und das Beziehungsverhältnis zwischen ihnen und den Professionellen Einseitigkeiten verbunden, auf die das Buch aufmerksam macht.

Die zwölf Autorinnen und Autoren beleuchten in ihren Einzelbeiträgen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Bezügen das komplexe Spannungsverhältnis von „Autonomie und Angewiesensein“, das jede menschliche Existenz fundamental auszeichnet. Nach inhaltlichen Gesichtspunkten gruppiert, möchte ich sie kurz nennen, um einen Eindruck von der Vielfalt der in das Buch aufgenommenen theoretischen Analysen und fallbezogenen Reflexionen zu vermitteln.

Fünf Beiträge entfalten grundlegende Aspekte des Spannungsverhältnisses von Autonomie und Angewiesensein im Kontext der (sonder-)pädagogischen und psychologischen, speziell psychoanalytischen Theoriebildungen. Unter Bezug auf die zentrale Frage Kants „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ zeigt Johannes Bilstein anregende ideengeschichtliche Beispiele des Traums vom „auto“, des sich als frei und autonom erklärenden Menschen, auf und verdeutlicht die jeglicher Erziehung innewohnende Paradoxie, das Ziel der Mündigkeit des zu Erziehenden mit Mitteln einer Halt und Richtung gebenden Einflussnahme zu gewährleisten.

Vor dem Hintergrund dieses paradoxen Verhältnisses von Autonomie und Heteronomie als konstitutiven Momenten der Pädagogik unternimmt Jochen Schmerfeld den interessanten Versuch, die individualpsychologische Theorie des Minderwertigkeitsgefühls von Alfred Adler für ein pädagogisches Denken fruchtbar zu machen, „das sowohl Minderwertigkeit als auch Autonomie als ‚Grund‘-Bestimmungen menschlichen Lebens zulassen kann“ und „Angewiesensein nicht als ausschließenden Gegensatz zu Autonomie“ versteht. Aus der von ihm vertretenen „Theoriekonstruktion, in der Autonomie auf akzeptierter Unvollkommenheit basiert“, könnte Autonomie bei akzeptierter Unvollkommenheit als ein grundlegendes Ziel jeder Erziehung, speziell aber bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, abgeleitet werden.

Rolf Göppel arbeitet eine „subtile Tendenz zur Geringschätzung von Angewiesensein und Abhängigkeit“ in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie (z. B. bei Sigmund und Anna Freud) heraus. Ihr stellt er die Bindungstheorie gegenüber, die das Angewiesensein an (mindestens) eine Bindungsperson als Sicherheit spendende Basis und damit Grundvoraussetzung für explorierendes und Autonomie förderndes Verhalten des Kindes betrachtet.

In einer differenziert kritischen Analyse fragt Bernhard Rauh , inwieweit die heute auf breite Zustimmung stoßende Aussage „Kinder erziehen sich selbst“ im Rahmen von Peer-groups zutrifft. Überzeugend kann er verdeutlichen, dass Peer-groups nur dann einen Entwicklungsraum für Kinder und Jugendliche darstellen, wenn sie zugleich über erwachsene Bezugspersonen verfügen, die als „Dritte“ triadische Interaktionsstrukturen ermöglichen. Solche Strukturen können die Entwicklung von Autonomie einerseits gegenüber Erwachsenen und andererseits gegenüber der Peer-group ermöglichen.

Zur Gruppe allgemeinerer theoretischer Analysen lässt sich auch den Beitrag von Dieter Katzenbach zählen. Er setzt sich zwar speziell mit dem Selbstbestimmungs-Paradigma der Geistigbehindertenpädagogik kritisch auseinander, kann jedoch für den gegenwärtigen sonder- bzw. heilpädagogischen Diskurs insgesamt eine hohe Orientierungs- und Klärungsfunktion beanspruchen. Auf der Grundlage der Anerkennungstheorie von Axel Honneth gelingt es ihm zu verdeutlichen, dass neben den heute in der Sonder- und Heilpädagogik propagierten Leitideen der Selbstbestimmung und des Empowerment auch weiterhin der traditionelle Fürsorge-Gedanke (heute oftmals durch den Begriff Care ersetzt) eine normativ-handlungsleitende Bedeutung im Sinne der Anerkennung des Anderen hat. Die drei genannten Leitideen sind aufeinander verwiesen und stehen in einem spannungsvollen Verhältnis, das es im professionellen Handeln und Reflektieren auszuhalten gilt. Katzenbach setzt sich damit wohltuend ab von dichotomischen Positionen, die Fürsorge als ‚altes‘ und Selbstbestimmung als ‚neues‘ Paradigma betrachten.

Drei Buchbeiträge haben den Charakter von kasuistischen Analysen. Während Thomas von Freyberg und Angelika Wolff eindrucksvolle und zugleich erschreckende Fallstudien aus einem Forschungsprojekt zu „nicht beschulbaren Jugendlichen“ vorstellen und die Verstrickungen von Schule und Jugendhilfe in die Konfliktgeschichte der Jugendlichen zwischen Autonomie und Kontrolle aufzeigen, schildert Regina Konrad aus ihrer psychotherapeutischen Arbeit am Beispiel von zwei Jugendlichen „Autonomiekonflikte in der Adoleszenz“.

Aufgrund eigener einschlägiger Vorerfahrungen hat mich besonders die Fallanalyse von Wilfried Datler aus einem Forschungsprojekt zur Frühförderung nachdrücklich beschäftigt. Am Beispiel von zwei Ausschnitten aus der Frühförderung mit einem Säugling mit Down-Syndrom verdeutlicht der Autor in sehr subtiler Weise, dass es besonders bei (schwer) behinderten Kindern oftmals nicht ausreicht, ihnen förderliche Umweltbedingungen bereitzustellen und sie in ihrem Tun aufmerksam und Anteil nehmend zu begleiten, da sie (noch) nicht in der Lage sind, überhaupt aktiv auf die Welt der Dinge und Menschen ‚zuzugehen‘. Vielmehr sind sie darauf angewiesen, dass sie durch Beziehungs- und Tätigkeitsangebote der Erwachsenen in ihren Aktivitätsansätzen behutsam stimuliert werden. Datler verwendet dazu den auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden, gleichwohl passenden Begriff „stimulierende Feinfühligkeit“ und zeigt überzeugend auf, dass die den derzeitigen Frühförderdiskurs bestimmende und aus meiner Sicht nach wie vor wichtige Vorstellung des Kindes als Akteur seiner Entwicklung präzisiert werden müsste. Ungeachtet dessen, ob für den Säugling im Fallbeispiel die Zuschreibung einer „Form von schwerer Behinderung“ zutreffend ist, wäre zu wünschen, dass dieser Beitrag in der Frühförderszene (und darüber hinaus) die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhält.

 Johan de Groef , Direktor einer Wohneinrichtung für geistig behinderte Erwachsene in Belgien, skizziert vor dem Hintergrund einer psychoanalytischen Betrachtungsweise theoretisch verdichtet und äußerst anregend die Entwicklung dieser Einrichtung in Richtung eines Mehr an Autonomie für die Bewohner/innen, betont dabei aber die bleibende, weil „fundamentale“ und „unaufhebbare Heteronomie“, das Angewiesensein auf den Anderen, in dessen Spiegel sich erst Autonomie entwickeln kann.

Den Abschluss des Buches bilden drei Beiträge zur „unterstützten Sexualität“ bzw. „Sexualassistenz“ bei Menschen mit (geistiger) Behinderung. Nach einem praxisnahen Bericht der Sexualbegleiterin Nina de Vries arbeitet Karl-Ernst Ackermann heraus, dass Sexualassistenz im Kontext der Selbstbestimmungsbewegung und -diskussion zu betrachten ist und „auf der Folie des Rechtes auf Selbstbestimmung eingefordert“ wird. In dieser kundenorientierten Dienstleistung werden, so Ackermanns These, die Beziehungsdimension und „die möglichen Beziehungswünsche der Assistenznehmer“ weitgehend ausgeblendet.

Diesen Aspekt greift auch Bernd Ahrbeck auf, der auf unterbelichtete problematische Folgen der für ihn prinzipiell positiven sexuellen Befreiung aufmerksam macht. Vor dem Hintergrund einer „schamlosen Kultur“ und ihrer exibitionistischen Selbstdarstellungstendenzen skizziert der Autor Grundzüge einer „Theorie der Schamaffekte“. Am Beispiel eines schwer körperbehinderten Mannes reflektiert er die inneren Konflikte, die durch das Schamgefühl und aus dem Erleben eines einseitigen Angewiesenseins auf die Sexualbegleiterin in einer Situation entstehen können, in der sich für diesen Mann „die praktizierte Sexualität … – von der psychischen Seite her – [als] die eines kleinen, passiven Kindes“ darstellt. Er schließt seinen kritischen Beitrag abwägend ab: „Die besonderen Einschränkungen, die behinderte Menschen erleben und die spezielle Form ihres Angewiesenseins auf andere erzeugen eine psychische Faktizität, die es anzuerkennen gilt. Insofern bestehen gute Gründe dafür, die ‚unterstützte Sexualität‘ nicht vorschnell als einen autonomen Akt zu feiern.“

Eine derart abwägende Argumentationsweise zeichnet das gesamte Buch aus. Keinesfalls werden darin die wichtigen Bemühungen diskreditiert, Menschen mit Behinderung und in erschwerten Lebenslagen ein Mehr an Selbstbestimmung zu ermöglichen und unmündige Abhängigkeitsverhältnisse zu reduzieren. Seine Intention ist es vielmehr, Verkürzungen des Selbstbestimmungsdiskurses offen zu legen, auf Gefahren einer überfordernden Selbstbestimmung als „neoliberalem Pflichtprogramm“ (Stinkes) aufmerksam zu machen und da kritisch einzuhacken, wo Selbstbestimmung zu einer bloßen Fortschrittsmetapher wird. Das Buch zeigt die Notwendigkeit auf und ermutigt dazu, sich in unterstützende, Halt und Orientierung gebende, notfalls auch Grenzen setzende Beziehungen, damit also in Erziehungsprozesse, mit Kindern und Jugendlichen und die damit verbundenen Spannungen und Widersprüche einzulassen. „Pädagogische Professionalität zeichnet sich dadurch aus, in Antinomien denken zu können und dennoch handlungsfähig zu bleiben“, so Katzenbach in seinem Beitrag, womit er eine wichtige Erkenntnis der pädagogischen Professionalisierungsdebatte aufnimmt. Dazu liefert dieses Buch bedeutsame Einsichten und Anregungen. Indem es ‚gegen den Strich‘ einer oberflächenhaften heil- und sonderpädagogischen Fortschrittsrhetorik ‚bürstet‘, liegt es zwar nicht unbedingt im Mainstream des gegenwärtigen heil- und sonderpädagogischen Diskurses, verdient jedoch gerade deshalb hohe Aufmerksamkeit. Ungeachtet seines fragwürdigen Titels (nicht die „Behinderung“, sondern der behinderte und der in psychosozial belasteten Verhältnissen lebende Mensch steht in besonderer Weise „zwischen Autonomie und Angewiesensein“) kann dieses für Sonder- bzw. Heilpädagogik im besten Sinne ‚anstößige‘ – Denkanstöße gebende – Buch uneingeschränkt und nachhaltig empfohlen werden.

Hans Weiß, Reutlingen

Bodenmüller, M. & Piepel, G. (2003). Streetwork und Überlebenshilfen. Entwicklungsprozesse von Jugendlichen aus Straßenszenen. Weinheim: Beltz Verlag. 356 Seiten, flexibel gebunden. 23,60 €.

Das vorliegende Buch stellt die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen, die in der Straßenszene leben, dar. Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich trotz mancher gemeinsamer Merkmale doch um eine recht heterogene Gruppe handelt. Um ein besseres Verständnis für die Jugendlichen zu gewinnen, werden einerseits neun Einzelfälle ausführlicher dargestellt, andererseits die Erfahrungen, die in der Begleitung einer größeren Anzahl von Jugendlichen in Münster und Umgebung gemacht wurden, zusammengefasst. Ein Schwerpunkt der Darstellung ist der Frage gewidmet, welche Faktoren die Stabilisierung und positive Weiterentwicklung dieser Jugendlichen unterstützen und welche Faktoren eine positive Entwicklung behindern und wie daher Hilfen aussehen sollten. Das Buch hat zweifellos eine gewisse Relevanz für die schulische Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen.

Christian Klicpera, Wien

Boessenecker, K., Vilain, M., Biebricher, M., Buckley, A. & Markert, A. (Hrsg.) (2003). Qualitätskonzepte in der sozialen Arbeit. Ergebnisse aus dem Forschungsschwerpunkt Wohlfahrtsverbände/ Sozialwirtschaft der Fachhochschule Düsseldorf. Weinheim: Beltz Verlag. 205 Seiten, flexibel gebunden. 20,50 €.

In dem Buch werden in 15 Kapiteln verschiedene Grundkonzepte der Qualitätssicherung und eine Reihe von konkreten Vorschlägen zur Beurteilung von Qualitätsmerkmalen in der Betreuungsarbeit vorgestellt. Diese Vorschläge stammen aus verschiedenen Praxisfeldern, für die sozialen Dienste im Bereich der Behindertenarbeit ist eine Kurzdarstellung von LEWO (Abkürzung für LEbensqualität in WOhnstätten) unmittelbar relevant. Die verschiedenen Kapitel sind in der gleichen Weise aufgebaut, indem zuerst die allgemeinen Überlegungen (=die Philosophie) des Qualitätskonzepts dargestellt wird, dann auf die Anforderungen und die möglichen Folgen einer Umsetzung in die Praxis eingegangen wird. Obwohl somit angestrebt wurde, dem Leser auch eine konkrete Vorstellung von Maßnahmen zur Qualitätssicherung nach verschiedenen Konzepten zu vermitteln, erscheint dies nur teilweise gelungen, zu vielfältig sind die Konzepte und wohl auch die Anwendungsbereiche, dass ein derartiger Überblick zu einem guten Verständnis für die möglichen Formen und Realisierungsmöglichkeiten von Maßnahmen führt, die die Qualität einer Einrichtung verbessern wollen. Zudem sind einige zentrale Anliegen bei einer Qualitätssicherung sozialer Dienste zu wenig angesprochen, etwa die Frage, wie die Anliegen und Sichtweisen der Nutzer vorrangig eingebracht werden können.

Christian Klicpera, Wien

Braun, G., Hasebrink, M. & Huxoll, M. (Hrsg.) (2003). Pädosexualität ist Gewalt. (Wie) Kann die Jugendhilfe schützen? Weinheim: Beltz Verlag. 173 Seiten, flexibel gebunden. 20,50 €.

„Pädosexualität“ hat sich in den letzten Jahren als zusammenfassender Begriff für sexuelle Aktivitäten mit Kindern statt des früheren Begriffs der Pädophilie etabliert. Die Auseinandersetzung damit hat auch durch die in den Medien ausführlicher berichtete Aufdeckung der Verbreitung von Kinderpornographie über das Internet größere Aufmerksamkeit gefunden. In diesem Sammelband wird auf verschiedene Aspekte dieser mit dem Missbrauch von Abhängigkeit und Gewalt verbundenen Aktivitäten eingegangen und es wird auch deren Relevanz für alle Institutionen, die mit Minderjährigen zu tun haben, eingegangen. So werden in einem eigenen Beitrag nicht nur niederschwellige Hilfen für Betroffene, sondern auch Maßnahmen zur Sensibilisierung für die Problematik in Einrichtungen der Jugendhilfe vorgestellt.

Christian Klicpera, Wien

Bugenthal, D. B. (2003). Thriving in the face of childhood adversity. New York und Hove: Psychology Press. ISBN 1841690589, 232 Seiten, fest gebunden. Pfund Sterling 30.99.

Dieses Buch geht von der Frage aus, ob nicht Stress und Belastungen in der frühen Kindheit positiv bewältigt werden und Ansporn zu einer positiven Entwicklung des betroffenen Kindes und seiner Eltern sein können. Die Autorin führt damit Überlegungen weiter, die eine primär negative Sichtweise medizinischer und physischer Behinderungen in Frage stellen und die negativen Folgen zu einem guten Teil als Folge der gesellschaftlichen Ablehnung, Stigmatisierung und Ausgrenzung betrachten. Dieser Sichtweise zufolge hängt es zum guten Teil von der Einstellung und Auffassung der Eltern ab, welche Richtung die weitere Entwicklung des Kindes einschlägt und die Auffassung der Eltern wieder wird dadurch geprägt, wieweit es ihnen die sozialen Umstände erlauben, trotz der damit verbundenen Risiken ihre Zeit und Energie in die Erziehung ihres behinderten Kindes zu investieren. Die Autorin erläutert ihren Ansatz an drei Beispielen: an Kindern mit Mobilitätsproblemen, wobei sie betont, dass solche Probleme sowohl aus einer Körperbehinderung als auch einer Sehbehinderung resultieren können; an Kindern, die sich aus unterschiedlichen Gründen zurückziehen und wenig Anteil an der sozialen Umgebung nehmen (auch hier können aus einer funktionellen Sichtweise unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen – es wird dies an drei Beispielen ausgeführt: Kindern mit Hörbehinderungen, mit Aufmerksamkeitsstörungen und mit einer Tourett´schen Störung) und schließlich an Kindern, die wegen einer sichtbaren Behinderung (z.B. einer Spina bifida) der Umgebung Unbehagen bereiten. In der Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen Behinderungen wird jeweils auf zwei große Themenkreise eingegangen: einmal auf die Annahme und Entwicklung einer positiven Sichtweise durch die Eltern und zum zweiten auf die Entwicklung eines positiven Verhältnisses zu den Gleichaltrigen (mit Unterstützung der Eltern). Die Sichtweise des Buches ist eine sehr positive und das Buch ist wegen der vielen persönlichen Geschichten auch gut lesbar. Eine weitere Stärke des Buches ist der Versuch, die neue Perspektive durch den Bezug auf Ansätze aus der Entwicklungspsychologie zu vertiefen.

Christian Klicpera, Wien

Fegert, J. M. & Ziegenhain, U. (2003). Hilfen für Alleinerziehende. Die Lebenssituation von Einelternfamilien in Deutschland. Weinheim: Beltz Verlag Votum. 254 Seiten. 27,90 €.

Das Buch stellt eine Sammlung der Referate einer Tagung vom Frühjahr 2002 dar, in der versucht wurde die Situation der Alleinerziehenden in Deutschland aus einer multidisziplinären Perspektive zu beleuchten und so zu einer Vernetzung der Hilfen beizutragen. Ausgangspunkt der Tagung war, dass es zum Allein-Erziehen in sehr unterschiedlichen Situationen kommen kann, dass aber – bedingt vor allem durch die soziale Situation und das geringe Einkommen vieler dieser Ein-Eltern-Familien – die betroffenen Kinder sehr häufig durch Verhaltensstörungen und soziale Anpassungsschwierigkeiten auffallen, sodass diese Familien insgesamt als eine Risikogruppe betrachtet werden müssen. Wie Fegert in seinem einleitenden Beitrag feststellt, besteht allerdings das Problem, dass Beratung und weiterführende Hilfen von diesen Hilfen trotz der gehäuften Probleme seltener in Anspruch genommen werden als von den Zwei-Eltern-Familien. Die 20 Beiträge dieses Buches sind in fünf Abschnitte gegliedert: ein erster Abschnitt mit dem Titel „Probleme und Koordinierung interdisziplinär angelegter Hilfen“ gibt neben einem Überblick auch Beispiele für Versuche einer Koordinierung von Hilfen, in den weiteren Abschnitt geht es um die soziologischen und rechtlichen Grundlagen, entwicklungspsychologische Aspekte, bessondere Problemesituationen (v.a. um Alleinerzieherfamilien von Eltern mit psychischen Problemen) und die Sicht der Träger der Sozialhilfe. Insgesamt bietet das Buch einen guten Überblick über die Probleme und Hilfen für diese Gruppe von Familien.

Christian Klicpera, Wien

Feyerer, E. & Prammer, W. (2003). Gemeinsamer Unterricht in der Sekundarstufe I. Anregungen für eine integrative Praxis. Weinheim: Beltz Verlag. 204 Seiten, flexibel gebunden. 16,40 €.

Für den österreichischen Leser könnte der Großteil des Buches bereits vertraut sein, handelt es sich doch um eine etwas ausführlichere Darstellung früherer Beschreibungen der Schulversuche zur Integration in der Grund- bzw. Sekundarstufe. Für Interessierte aus der BRD und der Schweiz stellt das Buch aber eine gute Einführung in die Integrationspraxis in der Sekundarstufe I in einem jener österreichischen Bundesländer (Oberösterreich) dar, die die Integration bisher am weitesten umgesetzt haben. Von Interesse dürfte vor allem die recht detaillierte Darstellung der Differenzierungsmodelle sein, ebenso die Darstellung des Projektunterrichts, der einen relativ großen Stellenwert einnimmt. Zu bedauern ist meiner Ansicht vor allem die geringe Betonung des kooperativen Unterrichts im engeren Sinn (nach Slavin, Johnson u.a.), aber auch dies ist typisch für die gegenwärtige Situation in Österreich, wo es damit relativ wenig Erfahrung gibt.

Christian Klicpera, Wien

Frith, U. (2003). Autism. Explaining the enigma. 2. Auflage. Oxford: Blackwell Publ. ISBN 0631229000 hb, 0631229019 pb 249 Seiten, flexibel gebunden. Pfund Sterling 15.99. Fest gebunden Pfund Sterling 50.00.

Die zweite Auflage des bekannten Buchs von Frith (1989), das auch ins Deutsche übersetzt worden ist, hält in wesentlichen Teilen am Aufbau der ersten Auflage fest – so sind etwa die Fallberichte nahezu unverändert (einige allerdings in Bezug auf die weitere Entwicklung ergänzt). Die Darstellung ist allerdings in einigen Teilen wesentlich ergänzt und erweitert worden. Dies betrifft vor allem die neuropsychologischen Grundlagen, wo Forschungen der letzten fünf bis sechs Jahre durch Verwendung neuerer Methoden (v.a. des fMRI, aber auch spezieller EEG-Analysen) einen gewissen Einblick in die biologischen Grundlagen Störung ermöglicht haben. Auch erlauben die Forschungsergebnisse der letzten Jahre bessere Einsichten in die kognitive Entwicklung dieser Kinder und in die Heterogenität der Störung. Auch die zweite Auflage ist autoritativ, fasst das in der Forschung Erreichte gut zusammen und stellt Fragen für die Zukunft.

Christian Klicpera, Wien

Hänsel, D. & Schwager, H. J. (2003). Einführung in die sonderpädagogische Schultheorie. Weinheim: Beltz Verlag. 232 Seiten, broschiert. 14,90 €.

Die beiden Autoren, Pädagogen der Universität Bielefeld, versuchen sich mit der Sonderpädagogik im Rahmen einer theoretischen Auseinandersetzung mit den Aufgaben der Schule auseinanderzusetzen und wählen dazu einerseits vier zu unterschiedlichen Zeitpunkten formulierte Ansätze der Sonderpädagogik (die pädagogische Pathologie von Strümpell, die Pädagogik der Behinderten von Bleidick, die Hilfsschulpädagogik von Fuchs und den Ansatz der integrativen Schulpädagogik), andererseits drei Fallstudien, die von diesen Ansätzen aus dargestellt werden. Ein abschließendes Kapitel über das sonderpädagogische Denken über die Verschiedenheit der Kinder dient als eine Art Zusammenfassung. Für historisch Interessierte hat die Auseinandersetzung mit den Ansichten wichtiger Vertreter aus der Geschichte der deutschen Sonderpädagogik (Strümpell, Fuchs) zweifellos seinen Wert, wieweit sie tatsächlich für die heute aktuellen Diskussionen von Bedeutung ist, erscheint mir zumindest fraglich.

Christian Klicpera, Wien

Hinsch, R. & Wittmann, S. (2003). Soziale Kompetenz kann man lernen. Weinheim: Beltz Verlag, PVU. 175 Seiten, gebunden. 19.90 €.

Die Anleitung zum Gruppentraining für soziale Kompetenz von Hinsch und Pfingsten liegt bereits in der 4. Auflage vor und hat damit relativ weite Verbreitung gefunden. In diesem Buch gibt Hinsch gemeinsam mit der Koautorin Wittmann Anleitungen zum sebstständigen Üben der sozialen Kompetenz, wobei eine einfache Einteilung der sozialen Fertigkeiten zugrunde gelegt wird und die Übungen eingeteilt werden in solche, in denen es darum geht, sich selbst bzw. die eigenen Rechte durchzusetzen, um Sympathie zu werben, also den Anderen für sich zu gewinnen und Beziehungen zu vertiefen bzw. zu pflegen. Wenn auch die Idee, dass soziale Kompetenzen auch durch eigenes Üben weiter entwickelt werden können, nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist, scheint es doch zweifelhaft, dass ein solches Üben ohne die Motivation und die Korrekturen durch die Rückmeldung Anderer sehr erfolgreich ist. Immerhin gibt das Buch eine aktualisierte Vorstellung von den Konzepten, die hinter dem Training stehen, das auch für die Sonderpädagogik eine gewisse Relevanz hat.

Christian Klicpera, Wien

Kleine Schaars, W. (2003). Durch Gleichberechtigung zur Selbstbestimmung. Menschen mit geistiger Behinderung im Alltag unterstützen. Weinheim: Beltz Verlag. Übersetzung aus dem Niederländischen. 152 Seiten, broschiert. 17,90 €.

Der Autor, der in der Beratung und Fortbildung von Mitarbeitern aus sozialen Diensten für Menschen mit Behinderungen tätig ist, stellt in dem Buch sein Konzept der Teilung der Betreuerfunktion in Wohneinrichtungen in einen Alltags- und Prozessbegleiter vor. Diese Trennung erscheint dem Autor wesentlich, damit eine Person sich allein um die Anliegen der Bewohner mit geistiger Behinderung und das Verständnis für dessen Bedürfnisse kümmern kann, während der Alltagsbetreuer sich um die Umsetzung dieser Anliegen im Alltag kümmert und dabei die Anliegen des Bewohners mit jenen der anderen Bewohner und den Anforderung des Alltags abzustimmen versucht. Hierbei geht es etwa auch um die Nutzung alternativer Kommunikationsformen, stärker aber noch um die Berücksichtigung von Kommunikationsregeln und das Bemühen um aktives Zuhören im Umgang mit den Bewohnern und den Einsatz von Ich- und Du-Botschaften. Dem Autor gelingt es über Fallbeispiele die Anwendung dieser Methode verständlich zu machen und auf die Folgen einer Umsetzung des Ansatzes im Betreueralltag neugierig zu machen.

Christian Klicpera, Wien

Leonhardt, A. & Wember, F. B. (Hrsg.) (2003). Grundfragen der Sonderpädagogik. Bildung – Erziehung – Behinderung. Weinheim: Beltz Verlag. 892 Seiten, fest gebunden. 80,20 €.

Das Buch setzt sich in der Tat recht systematisch zunächst in fünf Kapiteln mit Grundfragen der Sonderpädagogik auseinander, beginnend mit dem Versuch, die Disziplin vom Gegenstand bzw. dem Zugang zum Gegenstand her zu verorten, über die Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbegriff und der Theoriebildung und -prüfung sowie mit ethischen Fragen und grundlegenden Frage des integrativen Unterrichts. Ein weiterer Abschnitt mit sechs Kapiteln ist den Problemen und Methoden der Diagnostik gewidmet, wobei ein erster Versuch gemacht wird, dies nach Bereichen zu gliedern, indem zwischen der Diagnostik der kognitiven Entwicklung, des Erlebens und Verhaltens sowie jener im schriftsprachlichen und mathematischen Lernbereich differenziert wird. Eine ähnliche Bereichsspezifische Gliederung kennzeichnet auch den nächsten großen Abschnitt, bei dem jeweils für die acht Hauptbereiche der Sonderpädagogik (von den Sinnesbehinderungen bis zur Mehrfachschädigung) auf die Symptomatik, Ätiologie und Diagnostik einerseits und pädagogische Interventionen andererseits eingegangen wird. In einem abschließenden Abschnitt wird schließlich auf Alters- bzw. entwicklungsspezifische Aspekte eingegangen, von der Frühförderung bis zum fortgeschrittenen Alter.

Es handelt sich um ein recht umfangreiches Werk, das wohl bewusst versucht, die pädagogische Intervention ins Zentrum der Darstellung zu rücken, auch wenn dies manche Einschränkungen und relativ viel Redundanz mit sich bringt. Mit zu den Einschränkungen gehört, dass es kein Register und kaum Querverweise gibt, weiters dass es (mit weniger Ausnahmen) kaum Verweise auf die internationale, d.h. heute vor allem die englischsprachige, Literatur und auf Beiträge von Vertretern der „Nachbardisziplinen“ (abgesehen von einigen Kapiteln im Abschnitt über Diagnostik) gibt. Das Buch fordert in gewisser Weise zu der Frage heraus, ob es spezifische „Hänger“ im pädagogischen Zugang zu Anliegen von entwicklungsbeeinträchtigten Kindern gibt, Orte, die immer wieder diskutiert werden, ohne Fortschritte zu erzielen, und die das Lesen für nicht Zugehörige mühsam machen. Es scheint so, als ob dem so wäre, wobei hier v.a. der Streit um manche Begriffe (etwa die Begriffe „verhaltensgestört“ vs. „verhaltensauffällig“) anzuführen wäre.

Christian Klicpera, Wien

Niederecken, D. (2003). Namenlos. Geistig Behinderte verstehen. 4. überarbeitete und erweiterte Auflage. Weinheim: Beltz Verlag. 247 Seiten, flexibel gebunden. 25,60 €.

Das Buch hat eine etwas ungewöhnliche Entstehungsgeschichte, da es zunächst relativ wenig beachtet wurde, nun aber schon in der 4.Auflage vorliegt und auch als Habilitationsarbeit an der Universität Innsbruck angenommen wurde. Eine zentrale These des Buches stellt die Vermutung dar, Eltern geistig behinderter Kinder würden – im Vollzug eines gesellschaftlich vorformulierten Auftrags – Tötungswünsche gegen ihre Kinder hegen. Diese These ist zwar eine zentrale Botschaft des Buches, ist allerdings von mehreren anderen Erzählsträngen unterbrochen, die etwa mit der psychoanalytischen und der Musiktherapie von Personen mit geistiger Behinderung zu tun haben. Manche dieser als Episoden berichteten Ereignisse sind durchaus nachvollziehbar und zeugen von Einsicht in die Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung, die einen fruchtbaren Zugang eröffnen. Diese positiven Zugänge werden allerdings überlagert von anderen, in denen doch der Nachvollzug von psychoanalytischen Thesen dominiert, die einen Zugang zum Verständnis eher verstellen, so etwa die (insgesamt doch recht klare) Unterstützung der Thesen von Bettelheim, dass Eltern eine Mitschuld am affektiven Rückzug der autistischen Kinder trifft.

Christian Klicpera, Wien

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aktualisiert am 06.11.2006