Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 4 2013
Liebe Leserin, lieber Leser
der Heilpädagogischen Forschung,
haben Sie verfolgen können, was kürzlich über fragwürdige Publikationspraktiken zu lesen war? Angesehene Sozialwissenschaftler haben sich zu Datenfälschungen hinreißen lassen, um vor der Fachöffentlichkeit markante Effekte zu demonstrieren. Dahinter verbirgt sich jedoch ein systemimmantes, allgegenwärtiges Problem des Forschungsalltags: signifikante Effekte zu produzieren, will man fachlich und beruflich am Ball bleiben. Da wird mit statistischen Tricks gearbeitet, es werden Messungen und Teilergebnisse unterschlagen, um endlich zum gewünschten Ergebnis zu gelangen. Leider fördert unsere Wissenschaftskultur derlei Tendenzen: Dissertationen mit nicht signifikanten Ergebnissen werden abgewunken, Forschungsprojekte, die lediglich auf Replikationen abzielen, können keine Förderung erwarten. Es ist an der Zeit, hier etwas zu ändern. Was nun unser Pubklikationsorgan betrifft, ist davon auszugehen, dass Fälschungen durch unsere Peer-Reviewer als solche erkannt werden würden; und wenn Ergebnisse vorliegen, die den Erwartungen widersprechen und nicht die erwünschten Signifikanzen zeigen, wären sie in der Heilpädagogischen Forschung dennoch durchaus publikationswürdig.
In der vorliegenden Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung werden Sie Beiträge finden, die in Methodik und Fragestellungen nicht unterschiedlicher sein könnten.
Zuerst wird Günter Faber sein umfängliches Projekt vorstellen, das den Titel trägt: Erlebte Lehrerunterstützung in Abhängigkeit von Familiensprache und Geschlecht – Empirische Analysen einer proximalen Lernbedingung im Kontext schulfachlicher Kompetenz- und psychosozialer Integrationserfahrungen von Grundschulkindern. Nicht weniger als 298 Drittklässler waren einbezogen, und im Endeffekt konnte ein Mediationsmodell bestätigt werden, dem zufolge sich Schulleistungen über das Schülerselbstkonzept auf die von den Schülern erlebte Lehrerunterstützung auswirken. Beachten Sie bei der Lektüre dieses Beitrags auch, dass bestimmte erwartete Effekte nicht nachgewiesen werden konnten.
Jan Kuhl, Nils Euker und Arno Koch von der Universität Gießen haben sich in ihrer Untersuchung dem aktuellen wie schwierigen Thema der erweiterten Lesekompetenzen bei Vorliegen einer geistigen Behinderung zugewandt, i.e.S. ging es ihnen um die Evaluation eines Diagnoseverfahrens zur Erfassung der Lesekompetenz. Ziel der Studie war die empirische Evaluation der sog. Leselupe. Insgesamt zeigten die Ergebnisse, dass die Leselupe ein reliables und valides Testverfahren zur Erfassung der erweiterten Lesekompetenz darstellt.
Sabine Weiß, Markus Kollmannsberger und Ewald Kiel von der LMU München legen anschließend eine qualitative Studie zur Frage vor, wie Lehrerkompetenzen im Bereich der schulischen Erziehungshilfe aussehen könnten. Die Gesamtstichprobe umfasste 35 Experten aus dem Bereich Emotionale und Soziale Entwicklung, davon 21 erfahrene Lehrkräfte, 8 Schulleiterinnen und Schulleiter sowie 6 Seminarleiterinnen und Seminarleiter. Dabei erwiesen sich die bereits von Roth propagierten Kompetenzen als tragfähig. Zentrale Merkmale sind einerseits Haltung bzw. Berufsethos, andererseits Handlungsfähigkeit, um stets mehrere Handlungsalternativen zur Verfügung zu haben und in Gefährdungssituationen deeskalierend wirken zu können. Darüber hinaus wurden soziale und personale Kompetenzen hoch gewichtet (Empathie, Führungskompetenz, Kommunikationsfähigkeit). Fachliche und methodische Anforderungen traten dagegen in den Hintergrund. Zwischen den Expertengruppen bestanden in ihrer Einschätzung nur geringe Unterschiede.
Abschließend folgt ein Bericht von David Zimmermann von der Leibniz Universität Hannover unter dem Titel „Verstehen und Handeln – vom Umgang mit schweren psycho-sozialen Belastungen in der Schule“. Lassen Sie sich von der These des Autors provozieren, dass pädagogisches Nicht-Handeln angezeigt sein kann, wobei Professionelle Respekt vor der Überlebensleistung des Heranwachsenden zeigen sollten. Es können also auch Phasen der Passivität zugelassen werden, wodurch Raum zur Besinnung und zur Einordnung von Erfahrungen gegeben wird. Ein origineller Gedanke.
Dieses Heft der Heilpädagogischen Forschung bietet Ihnen also diverse Beiträge, die dem Gebot der wissenschaftlichen Lauterkeit folgen und zur Reflexion einladen,
Ihr
Herbert Goetze |