Heilpädagogische Forschung
 
Editorial von Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 3 2013

Liebe Leserin, lieber Leser
der Heilpädagogischen Forschung,

können Sie sich an die Debatten erinnern, die das Thema der Sexualität bei Vorliegen einer geistigen Behinderung auslöste? Es ist noch nicht allzu lange her, dass ein Experte diejenigen, die sich für ein Recht auf Sexualität bei behinderten Menschen einsetzten, als „inkompetente Behindertenromantiker“ abkanzelte.

Mit dem ersten Beitrag dieser Ausgabe über den Umgang mit Sexualität und Familiengründungswünschen bei Jugendlichen mit Trisomie 21 aus Sicht der Jugendlichen selbst und ihrer Eltern von Hellgard Rauh, Steffen Bahre und Herbert Goetze wird mit solchen Vorurteilen gründlich aufgeräumt. Denn der Umgang mit der erwachenden Sexualität, mit Partner- und Kinderwünschen stellt für alle Betroffenen eine besondere Herausforderung dar. Bislang ungeklärt ist, wie sich die Situation derzeit darstellt. Hier setzt die hier vorgestellte Untersuchung an. Es wurden überwiegend die Eltern, aber zu einigen Fragen auch die Jugendlichen selbst befragt, und zwar zur Akzeptanz von Sexualität, Partnerschaft und Familiengründung bzw. Kinderwunsch. Zusätzlich zu den Fragen zum Umgang mit Sexualität wurden der kognitive Entwicklungsstand (Minnesota-Entwicklungsfragebogen) und der Entwicklungsstand der sozialen Kompetenz (Vineland Social Adaptive Scales) der jungen Leute mit Trisomie 21 durch Befragung ihrer Eltern erhoben. Im Ergebnis zeigte sich, dass alle befragten Eltern ihren Jugendlichen grundsätzlich die Möglichkeit von Geschlechtsverkehr zugestanden. Auch befürworteten sie einen antizipier­ten Heiratswunsch ihrer Kinder. Einer möglichen Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung standen sie aber eher skeptisch bis ableh­nend gegenüber. Eltern mit einem höheren Bildungsgrad hatten die größeren Bedenken. Geschlecht und Alter der Jugendlichen spielte dabei eine Rolle. Die durchgängige Zustimmung der befrag­ten Eltern zur Sexualität ihrer geistig behinderten Kinder war in diesem Ausmaß nicht erwartet worden. Ebenso überraschten die recht differenzierten Zukunftsvorstellungen von etlichen der Jugendlichen.

Unser zweiter Forschungsbeitrag greift ebenfalls eine kritische Thematik auf, indem Wegen und Umwegen zur The­rapie von lese-rechtschreibschwachen Kin­dern nachgegangen wird. Alfred Schabmann, Daniela Szasz und Barbara Maria Schmidt baten Eltern von 23 Kin­dern, ihre Erfahrungen bis zum Eintritt in eine wissenschaftlich fundierte Therapie zur beschreiben. Bei zwei Drittel der Kinder wird der Erstverdacht erst nach der 1. Schulstufe geäußert, bei Jungen später als bei Mädchen. Der Zeitraum, der zwischen dem Erstverdacht und der tatsächlichen Diagnose einer Lese-Rechtschreibschwierigkeit vergangen war, betrug im Durchschnitt 10.3 Monate. Ein Großteil der Kinder begann erst in der dritten Klasse mit einer adäquaten und fundierten Behandlung. Im Durchschnitt haben die Eltern und Kinder davor bereits Erfahrungen mit zwei Therapien gemacht, die i.d.R. zu den wissenschaftlich in ihrer Wirksamkeit nicht evaluierten Verfahren gehören.

Im dritten Forschungsbeitrag geht es um die Analyse von erfolgten und unterbliebenen Partizipationserfahrungen von jungen Menschen mit intellektu­eller Beeinträchtigung beim Übergang Schule–Beruf. Helga Fasching vergleicht den Werdegang von AbsolventInnen aus Sonderschulen und aus integrativen Lernumgebungen. Mittels der Forschungsmethode der Grounded Theory werden Partizipationserfahrungen von acht jungen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung beim Übergang von der Schule in den Beruf erkundet. Damit ließ sich erkennen, dass der Einfluss der Familie und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit professionellen Unterstützungsangeboten als wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche berufliche Partizipation entscheidend ist. Die Ergebnisse machen auf die Bedeutsamkeit einer herkunftsbedingten Benachteiligung im Übergang von der Schule in den Beruf bei jungen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung aufmerksam. Darüber hinaus liefert der Beitrag einige Aspekte für eine Weiterentwicklung der Grounded-Theory-Methodologie.

In dem an vierter Stelle stehenden Forschungsbeitrag von Susanne Schwab, Markus Gebhardt und Barbara Gasteiger-Klicpera geht es ebenfalls um die Inklusionsthematik. Nach vorliegender Literaturlage erscheinen Probleme des Inklusionsunterrichts auf der Primarstufe so gut wie gelöst, jedoch noch nicht im Sekundarstufenbereich. Hier setzten die Autoren an und untersuchten das Sozialverhalten und die sozialen Kompetenzen in Beziehung zur sozialen Integration von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I. Es zeigte sich, dass SchülerInnen mit sonderpädagogi­schem Förderbedarf (SPF) sich emotional ähnlich gut integriert fühlen wie SchülerInnen ohne SPF, bei der sozialen Integration war dies jedoch nicht der Fall. Weiterhin konnte jedoch gezeigt werden, dass nicht der SPF die erklärende Variable für diese Diskrepanz ist, sondern die soziale Integration durch direkte Viktimisierung und das prosoziale Verhalten der Peers.

Die Ergebnisse legen nahe, dass in Integrationsklassen ein größeres Augenmerk auf das Sozialverhalten aller beteiligten SchülerInnen gelegt werden sollte, da dieses mit steigender Integration immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Bitte überschlagen Sie nicht die zum Schluss eingebrachte kritische Rezen­sion und nehmen Sie auch Kenntnis von neu erschienenen Büchern und anstehenden Veranstaltungen.

Ich wünsche Ihnen viel Lesevergnügen, wenn Sie die hervorragenden For­schungs­arbeiten in dieser Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung studieren,

Ihr
Herbert Goetze

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aktualisiert
am 11.03.2015