Heilpädagogische Forschung
 
Editorial von Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 3 2012

Liebe Leserin, lieber Leser
der Heilpädagogischen Forschung,

vor längerer Zeit hatte ich ein Gespräch mit der Dekanin der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Idaho State University, Deborah Hedeen, nachdem ich in ihrer Vita entdeckt hatte, dass Sie an der Syracuse University bei Doug Biklen, der amerikanischen Zentralfigur der sog. Gestützten Kommunikation (englisch: facilitated communication FC), promoviert hatte. Ich sprach sie darauf an und erwartete ihre Distanzierung; stattdessen beharrte sie auf der inzwischen widerlegten These, dass man die Armstützung systematisch ausblenden würde, bis die gestützte Person selbst und unabhängig schreiben könne. Bis heute ist mir unverständlich geblieben, wie eine hochintelligente Wissenschaftlerin einer renommierten Universität sich so ignorant und immun zeigen konnte. Dr. Hedeen ist leider nur ein Beispiel für manche Hochschullehrer an amerikanischen und leider auch an deutschen Hochschulen, die bei FC die Standards wissenschaftlichen Arbeitens über Bord werfen und konsequent an ihrem Irrglauben an eine vermeintlich wirkungsvolle Technik festhalten.

Diese Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung befasst sich thematisch mit FC und hat das Ziel, die pseudowissenschaftliche Natur der Gestützten Kommunikation aufzudecken und öffentlich zu machen. Dazu werden eindrucksvolle Fallbeispiele und Literatur-Reviews vorgetragen. Den Anfang macht der Forschungsbeitrag von Paul Probst, in welchem er anhand von Einzelfallanalysen an drei nichtsprechenden Personen, bei denen FC zur Anwendung kam, schwerwiegende psychosoziale Risiken der Gestützten Kommunikation aufzeigt. Dabei geht es um die Anklage gegen einen Vater wegen sexuellen Missbrauchs seiner 12-jährigen Tochter, weiterhin um die Schulbegleitung eines 10-jährigen Jungen und schließlich um eine weitere Anklage gegen einen anderen Mann wegen sexuellen Missbrauchs seiner 16-jährigen Tochter. Verfolgen Sie, wie Paul Probst fachwissenschaftlich fundiert den Nachweis führt, dass nach Anwendung dieser Methode unverantwortbare Kosequenzen folgten, die zu schweren Beeinträchtigungen der Betroffenen geführt haben.

Während Probst die fachwissenschaftlichen Befunde nüchtern-distanziert darstellt, trägt der dann folgende Bericht stark autobiographische Züge. Die Autorin Janyce Boynton ist eine ehemalige Stützerin. Sie wird aus eigener, schmerzlicher Erfahrung aufzeigen, welcher menschliche Schaden durch FC angerichtet worden ist, für den sie sich selbst verantwortlich macht. Sie zeichnet in erschütternder Weise nach, wie sie zunächst in einen Zwinger der Immunisierung gekommen ist, aus dem es fast kein Entrinnen für sie gab, und wie sie diesem mächtigen Netzwerk dann doch entkommen ist. Ich verspreche Ihnen einen Bericht, der sich fast wie ein Kriminalroman liest, er spiegelt aber leider eine Realität wider, die aktuell und weltweit weiterhin zu himmelschreiendem Unrecht führt, wenn Familienzusammenhalt zerstört und den betroffenen Kindern für sie notwendige Förderung vorenthalten wird.

Angesichts dieser Tatsachen ließe sich nun fragen: Wie wird hierzulande FC rezipiert und wie stehen Fachverbände, Selbsthilfevereinigungen und der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung zur Gestützten Kommunikation? Paul Probst hat sich die Mühe gemacht, die maßgeblichen Institutionen nach ihrer Einschätzung und Einstellung zur FC zu befragen. In seinem Bericht sind die Ergebnisse nachzulesen. Um dies schon einmal vorwegzunehmen: Man kann schon etwas enttäuscht über die lavierenden, sich nicht festlegen-wollenden Reaktionen mancher dieser Institutionen sein. Man fragt sich, was denn noch alles geschehen muss – nach allem, was bereits passiert ist –, damit die Verantwortlichen endlich wach werden und eindeutig Stellung beziehen. Aber immerhin gibt es auch positive Nachrichten in Form einer klaren Ablehnung der Gestützten Kommunikation durch andere Institutionen bzw. von anderer Seite zu vermelden, ein Hoffnungszeichen.

Gerade ist eine Veröffentlichung in Buchform über die Gestützte Kommunikation erschienen. Allmuth Bober, führende deutsche Expertin in Sachen Gestützter Kommunikation, hat sich die Mühe gemacht, die aktuelle Schrift in einer kritischen Rezension formal und inhaltlich zu analysieren. Mit ihrer kritischen Rezension erlaubt Bober einen Blick hinter die Fachrhetorik der Autoren und setzt dem ihre Detailanalyse der im Buch vorfindbaren Aussagen entgegen, wenn es z.B. um die Gegenüberstellung der Autorenaussagen mit den Originalzitaten und anderes geht. Sie weist den Autoren schlussendlich nicht nur handwerkliche Mängel, sondern auch inhaltliche Fehler nach.

Mit einer weiteren Rezension, die etwas erfreulicher ausgefallen ist, und mit Ankündigungen der nächsten Veranstaltungen im Bereich der Behindertenpädagogik wird diese Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung abgeschlossen.

Liebe Leserschaft dieser Zeitschrift, ich meine, dass die Fakten, die in dieser Ausgabe zusammen gestellt sind, eigentlich für sich selbst sprechen und keines weiteren Kommentars bedürfen. Ich kann mir eigentlich am Schluss nur wünschen, dass an die Gestützte Kommunikation diejenigen wissenschaftlichen Kriterien angelegt werden, die wir durch eigene Ausbildung und erworbene Kompetenz an unser Tun und an die veröffentlichte Forschung anzulegen gelernt haben.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre,

Ihr
Herbert Goetze

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aktualisiert
am 04.09.2012