Heilpädagogische Forschung
 
Editorial von Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 4 2011

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Liebe Leserin, lieber Leser
der Heilpädagogischen Forschung,

wieder schließen wir ein Jahr ab, in welchem sich die Heil- und Sonderpädagogik auf akademischer und schuli­scher Ebene in eine konstruktive Richtung weiter entwickelt hat. Für unsere Fachzeitschrift, die Heilpädagogische Forschung, lässt sich als Jahresresümee ziehen, dass sie weiterhin ihren Platz unter den Fachpublikationen behauptet hat und in erstaunlichem Ausmaß von nationalen und internationalen Leserkreisen zur Kenntnis genommen und gelesen wird. Diese Zeitschrift deckt ein breites Forschungsthemenspektrum ab und öffnet sich auch für Berichte aus der heil- und sonderpädagogischen Praxis – wie diese Ausgabe wieder einmal zeigt.

An erster Stelle legen die Wiener Fachkollegen Barbara Maria Schmidt und Alfred Schabmann eine solide gemachte Studie zur Akkuratheit von Einschätzungen der Eltern zu Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens ihrer Kinder vor; außerdem wurde der Frage nachgegangen, welche Rolle Lehrerurteile und die Testleistungen der Kinder als Grundlage für eigene Beobachtungen der Eltern spielen und ob ggf. sachfremde Merkmale der Kinder wie Verhaltens­auffälligkeiten und Bildungsnähe der Familie eine Rolle spielen. Die vorgelegten Ergebnisse werfen ein deutliches Licht auf die (mangelnde) Kooperation zwischen Schule und Elternhaus.

Eine ganz andere Fragestellung wurde in der zweiten, hier vorgestellten Untersuchung von Carina Lüke und Ute Ritterfeld verfolgt; es ging um den Themenkomplex der mehrsprachigen Kinder in sprachtherapeutischer Behandlung, genauer um die Frage, wie viele mehrsprachige Kinder sich aufgrund welcher Indikationen in sprachtherapeutischer Behandlung befinden und wie kompetent sich Therapeutenpersonen in der sprachtherapeutischen Versorgung mehr­sprachiger Kinder sehen. Die vorgelegten Ergebnisse lassen erkennen, dass es gilt, die Sprachdiagnostik der Zielgruppe mehrsprachiger Kinder deutlich zu optimieren.

Der dritte Beitrag wurde von Andreas Möckel, einem Nestor der deutschsprachigen Heil- und Sonderpädagogik, verfasst und trägt den Titel „Allgemeine Pädagogik, Heilpädagogik, Inklusion“; Möckels historische Betrachtungen sind dem Andenken an Jakob Muth gewidmet. Möckel arbeitet vier Aspekte der Bildsamkeit heraus, die in den Anfängen der Gehörlosen-, Blinden- und Geistigbehindertenpädagogik eine kon­struktive Wende pädagogischen Denkens jener Zeit nach sich gezogen haben. Der Autor spannt dann einen Bogen hin zu einer künftigen Inklusionspädagogik, die die Lösung von Problemen angehen muss, die in der Geschichte der Pädagogik bisher weitgehend ungelöst geblieben sind.

Es schließen sich zwei Berichte an. Ein kürzerer Bericht von Heinz Krombholz trägt den bezeichnenden Titel „Zweifelhafte Ergebnisse einer Studie zu den Störungsbildern ‚motorische Entwicklungsstörung (DCD)‘ und ‚Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)‘ – die ‚Gillberg-Affäre‘“. Ein wesentliches Ergebnis dieser sog. Göteborg-Studie war, dass Kinder, bei denen im Alter von 7 Jahren die Diagnose ADHS bzw. DCD gestellt worden war und die keinerlei medizinische Behandlung erhielten, später von erheblichen Verhaltensproblemen betroffen waren, weshalb die Autoren eine möglichst frühzeitige und systematische Therapie der von ADHS und DCD betroffenen Kinder, nicht zuletzt mit Hilfe von Medikamenten (Stimulanzien), empfahlen. Krombholz stellt in diesem Bericht heraus, dass diese Studie der Forschergruppe um Gillberg inhaltlich und methodologisch scharf kritisiert worden ist bis hin zum Vorwurf der Datenfälschung. Die Kontroversen führten schließlich zu einer Verurteilung, aber auch zur Datenvernichtung durch die Autoren – aber lesen Sie das selbst!

Der am Schluss abgedruckte Bericht hat die sog. Filialtherapie zum Inhalt, die eine besondere Form der Spieltherapie darstellt; der erwachsene Spielpartner des Kindes ist jedoch nicht ein Spieltherapeut, sondern ein Elternteil, der auf diese Anforderung hin besonders trainiert wird. An der Universität Potsdam haben wir eine Filialtherapie durchgeführt, deren Verlauf hier ausführlich protokolliert wird. Wir kommen schließlich zu der Schlussfolgerung, dass die Filialtherapie heil- und sonderpädagogischen Zielsetzungen besonders entgegen kommt, denn vorhandene elterliche Selbsthilfepotenziale werden aktiviert, Eltern haben nicht das Gefühl, sich von Fachleuten abhängig zu machen, sondern behalten maximale Kontrolle über die eigenen Beeinflussungsmöglichkeiten bei minimaler Außenlenkung durch eine Expertenperson.

Ich vermute, dass viele, wenn nicht alle der hier angesprochenen Themen Ihr besonderes Leseinteresse finden werden,

Ihr
Herbert Goetze

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aktualisiert am 25.12.2011