Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 4 2010
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Liebe Leserin, lieber Leser
der Heilpädagogischen Forschung,
ein weiteres Jahr ist ins Land gegangen, und man kann leider nicht
sagen, dass sich die Dinge für die Heil- und Sonderpädagogik
in eine erfreuliche Richtung entwickelt hätten. Die schulische
Versorgung von Kindern mit Behinderungen ist weiterhin mit einem
großen Fragezeichen versehen: Wird wohl im kommenden Jahr
eine schulpolitische Entwicklung mit Augenmaß betrieben werden,
die sich von Scheuklappen ideologischer Verblendung befreit
und die Interessen der Betroffenen in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen
stellt? Auch hochschulpolitische Entwicklungen, die unsere Disziplin
betreffen, geben keinen Anlass zu großem Optimismus: Universitäre
Ba-Ma-chaotische Standardisierungsprogramme scheinen das Leiden
unserer Studierenden zu vermehren, und es wird wohl noch etwas
Zeit ins Land gehen, bevor die Reform reformiert wird. Forschungsbezogen
sind eindrucksvolle Forschungsförderprogramme kaum vorhanden,
Gelder fließen eher in Projekte mit den neuen Technologien,
und entsprechend ist der Erkenntnisstand in der Heil- und Sonderpädagogik
letztlich nicht sonderlich vorangekommen. Aber einen kleinen Lichtblick
heilpädagogischer Forschung möchte ich doch hervorheben,
und das auf folgendem Hintergrund: Vor mehr als einem Jahrzehnt
haben mehrere Autoren, zu denen ich mich zählen durfte, eine
Schrift zur Einzelfallforschung in der Sonderpädagogik heraus
gebracht, die allerdings von der Fachwelt weitgehend ignoriert worden
ist. So ganz unbeachtet sind die damals vorgetragenen Forschungsansätze
jedoch nicht geblieben, sie sind vielmehr unter dem Etikett des
curriculumbasierten Messens (CBM) lebendig geworden. Mit großer
Freude kann ich Ihnen mitteilen, dass sich gleich zwei Beiträge
in dieser Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung mit CBM befassen:
So findet sich in der Untersuchung von Michael Grosche und Anna-Maria
Hintz (Universität zu Köln), die den Titel „Überprüfung
von Verfahren zur Evaluation von Alphabetisierungskursen durch
eine Einzelfallstudie“ trägt, der Hinweis auf objektive
Auswertungsmethoden des CBM. Inhaltlich geht es um die Evaluation
von Alphabetisierungskursen. Diese Art der Evaluation sollte, so
die Autoren, in zukünftigen Untersuchungen zu Fördereffekten
von Alphabetisierungskursen unbedingt verwendet werden.
Jürgen Walter von der Flensburger Universität berichtet
von seinem Untersuchungsprojekt unter dem Titel „Lernfortschrittsdiagnostik
am Beispiel der Lesekompetenz (LDL) – Messtechnische Grundlagen
sowie Befunde über zu erwartende Zuwachsraten während
der Grundschulzeit“ und weist darin darauf hin, dass das CBM
seit langer Zeit in den USA für die Evaluation diagnostischer
Verfahren zur Lernfortschrittsmessung eingesetzt wird, und dass
dieser Ansatz in letzter Zeit nun auch hier aufgegriffen wird; ich
möchte hinzufügen: endlich!
Einem ganz anderen Thema wendet sich Jürgen Wilbert mit seiner
Untersuchung zu den sog. Stereotype-Threat-(ST)Effekten bei Schülern
des Förderschwerpunktes Lernen zu; er ging experimentell der
Frage nach, ob das Etikett des Besuchs einer Allgemeinen Förderschule
zu einem negativen ST-Effekt führt. Die Ergebnisse sollten
uns zu denken geben, betreffen sie letztlich auch die Leistungsbereitschaft
und -ergebnisse der betroffenen Schüler.
Es schließen sich zwei Berichte an: Der erste Münchener
Bericht von Andrea Christine Schmid und Maria Höfler betrifft
Bewältigungsmuster von Lehrkräften an Schulen mit dem
Förderschwerpunkt Lernen. Aufgrund der erhobenen Daten kommen
die Autorinnen zu dem Schluss, dass eine hohe Anzahl von Lehrkräften
im Förderschwerpunkt Lernen zu der Gruppe der Burnout-Gefährdeten
zu zählen ist, die kaum dazu in der Lage ist, den beruflichen
Stress langfristig zu bewältigen, so dass hier dringender Veränderungsbedarf
angezeigt ist.
Gerade rechtzeitig vor Redaktionsschluss hat uns von Paul Probst
der Nachruf des im August 2010 verstorbenen Ole Ivar Lovaas
(Lovaas-Ansatz) erreicht. In eindrucksvoller, sensibler, aber auch
kritischer Weise zeichnet Probst die wissenschaftliche Entwicklung
und Leistung dieser Fachautorität der Autismusforschung nach.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre dieser Beiträge,
die ein großes inhaltliches Themenspektrum abdecken,
Ihr
Herbert Goetze |