Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 4 2009
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Liebe Leserin, lieber Leser der Heilpädagogischen Forschung,
in meiner derzeitigen Tageszeitung, der Chicago Tribune, las ich am 25. November unter dem Titel „End to coma diagnosis is described as rebirth“ einen Beitrag, der davon handelte, dass ein nach einem Autounfall seit 23 Jahren im Koma liegender Patient schließlich ein Lebenszeichen und eine Botschaft mit dem Inhalt gesendet habe, dass er sich nach Dekaden der Einsamkeit und Frustration nun wie wiedergeboren fühle, weil er wieder kommunizieren könne. Eine Sprachtherapeutin hatte ihm dabei geholfen, die Hand über ein Keyboard zu führen und damit das Eintippen zu erleichtern. Der Artikel endet mit der Stellung-nahme des Professors für Bioethik von der University of Pennsylvania, Arthur Caplan, der sinngemäß ausführt: „Was da vorgeführt wurde, nennt sich Facilitated Communication und ist Ouija-Hokuspokus. Immer wieder ist diese Methode wissenschaft-lich als unglaubwürdig qualifiziert worden.“ Und wörtlich weiter: „… it’s usually the person doing the pointing who’s doing the messages, not the person they claim they are helping.“ Ich möchte diesen Gedanken aufnehmen und Ihre Aufmerksamkeit auf die letzte Seite dieser Ausgabe lenken; hier findet sich nochmals eine Resolution, mit der sich namhafte deutsche Wissenschaftler gegen den Einsatz dieser wissenschaftlich widerlegten Kommunikationsmethode aussprechen. Aus gegebenem Anlass hat sich auch der Arbeitskreis Gesundheitspolitik der Fachverbände der Behindertenhilfe mit diesem Thema befasst und bekräftigt, dass die Methode der sog. Gestützten Kommunikation der wissenschaftlichen Legitimation entbehrt. Man sollte doch meinen, dass dieser „Hokuspokus“ nun doch endlich ein Ende finden sollte.
In dieser Ausgabe findet Sie wiederum ein weites inhaltliches Spektrum von interessanten Arbeiten, die ersten beiden sind von zwei Fachwissenschaftlern mit dem Namen Probst autorisiert worden, aber lassen Sie sich nicht von der Namensgleichheit beirren: Die beiden Herren sind weder verwandt noch verschwägert. Paul Probst von der Hamburger Universität stellt eine aufwändige Prä-Post-Studie vor, mit der dem Einfluss einer TEACCH-basierten Intervention auf eine Stichprobe von Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen hinsichtlich möglicher Veränderungen bei dysfunktionalen Verhaltensweisen, sozial-kommunikativen Kompetenzen und alltagspraktischer Selbständigkeit nachgegangen wurde. Die Ergebnisse entsprachen den Erwartungen und zeigten überdies eine hohe Akzeptanz des TEACCH-Ansatzes durch das pädagogische Fachpersonal.
Holger Probst von der Gießener Universität stellt Ergebnisse eines langfristig angelegten Projektes zur Rechtschreibförderung von Risikoschülern durch Grundschullehrerinnen vor, in welchem eine jahrgangsbreite Diagnostik zur Identifizierung schwacher Rechtschreiber zum Einsatz kam, dem ein Training dieser Risikoschüler folgte, das die Lehrkräfte der Schule durchführten. Die Ergebnisse sind außerordentlich ermutigend, denn die geförderten Schüler erreichten signifikant verbesserte Rechtschreibleistungen. Das Projekt erwies die Wirksamkeit standardisierter Fördermaterialien, die Prinzipien der Binnenwortgliederung nutzen, wobei nicht Studierende oder gut bezahlte Trainer, sondern die regulären Grundschullehrkräfte unter den gegebenen Praxisbedingungen die Förderung durchführten.
Markus Schäfers stellt anschließend seine Überlegungen und Untersuchungen bezüglich der Methodenforschung zur Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung vor. Es gibt einen Mangel an fundierten methodenkritischen Analysen hinsichtlich dieses Forschungsinstruments, deshalb ging Schäfers der Frage nach, inwieweit der Zugang über die direkte Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung zu gültigen Einschätzungen ihrer Sichtweisen führen kann und von welchen Faktoren die Datenqualität beeinflusst wird. Im Ergebnis zeigte sich der bisher stark vernachlässigte Einfluss bestimmter inhaltlicher und formaler Fragemerkmale. Die Technik der Befragung scheint insgesamt von hoher Relevanz zu sein, wenn die Sichtweisen von Menschen mit einer geistigen Behinderung erfasst werden sollen.
Der sich anschließende kurze Bericht von Helmut Niederhofer befasst sich mit der beruflichen Integration am Arbeitsplatz, also einem Bereich, dem die Forschung bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Untersucht wurde die Effizienz des Projek-tes Integration am Arbeitsplatz über einen Zeitraum von 12 Monaten, bei dem ein innerbetrieblicher Mentor ohne pädagogische Zusatzqualifikation während der Arbeit als primäre Bezugsperson für die behinderte Person fungierte. Im Bericht werden Veränderungen der praktischen, kognitiven und sozialen Kompetenz dokumentiert.
Abschließend wird über den pädagogischen Einsatz der funktionalen Verhaltenstherapie berichtet.
Wie immer wünsche ich Ihnen eine anregende wissenschaftliche Lektüre, die Sie vielleicht zu eigenen, kreativen Forschungsideen anregt,
Ihr Herbert Goetze |