Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 3 20089
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Liebe Leserin, lieber Leser der Heilpädagogischen Forschung,
manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, die deutsche Sonderpädagogik führe ein provinzielles Dasein. Da erscheinen Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen – wie jüngst zum Thema der Inklusion bei Schwerstmehrfachbehinderung –, die einer Geisteshaltung angehören, die stets „Recht“ zu haben scheint. Die bessere Rhetorik wird zum Entscheidungskriterium über die Richtigkeit der eigenen Annahmen, die mit Selbstreferenzen zu belegen versucht werden. Ich wage zu behaupten: Solche Beiträge würden aus Gründen mangelhafter Qualität in anglo-amerikanischen Fachzeitschriften nie publiziert werden. Andererseits gibt es aber auch Lichtblicke: Noch immer gibt es Fachbücher und -zeitschriften, die international gültigen Ansprüchen an fachliche Qualität genügen, und vielleicht darf sich die Heilpädagogische Forschung auch dazu zählen.
An erster Stelle in dieser Ausgabe gehen Jürgen Wilbert und Heike Gerdes mit einer empirischen Studie der Frage nach, welche Bezugsnormen angehende Lehrer des Förderschwerpunktes Lernen bei der Beurteilung von Schülerleistungen einsetzen und inwiefern sie diese nach Beurteilungszielen und Leistungsniveau der Schüler differenziert anwenden. Die Ergebnisse zeigen ein differenziertes Bild der Rolle, die soziale Bezugsnormen zu spielen scheinen.
Alfred Schabmann und Barbara Maria Schmidt fragen an zweiter Stelle danach, ob Lehrer gute Lese-Rechtschreibdiagnostiker sind, und gehen in ihrer empirischen Studie dem Einfluss von problematischem Schülerverhalten auf die Einschätzungen der Lesekompetenz durch Lehrkräfte nach.
Jürgen Bellingrath, Hilla Iskenius-Emmler, Boris Haberl und Susanne Nußbeck untersuchten die so wichtige Frage des Belastungserlebens von Eltern mit behinderten Kindern. Ziel war es, Zusammenhängen zwischen personalen und sozialen Ressourcen und dem Belastungserleben der Eltern empirisch nachzugehen. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Art der kindlichen Behinderung, personbezogene Merkmale und soziale Ressourcen das Belastungserleben beeinflussen.
Holger Probst von der Universität Gießen hat ein aufwändiges Schulprojekt durchgeführt, mit welchem schriftsprachliche Kompetenzen im Eingangsbereich der Primarstufe mit ausgewählten Risikokindern gezielt gefördert worden sind. Mit einem komplexen Kontrollgruppenversuch wurden Trainingsfortschritte geförderter bzw. nicht förderbedürftiger Kinder durch Messwiederholung erfasst. Interessant zu erfahren ist es nun, in welchen Förderbereichen sich die Förderkinder den anderen in ihren Leistungen annähern – und in welchen weniger.
Der Forschungsbeitrag der Schweizer Kollegen Caroline Sahli Lozano, Michael Eckhart und Philippe Blanc ging der Frage nach, ob sich berufliche Wünsche von Kindern des sechsten Schuljahres in Abhängigkeit von deren Schulbiographien (Regelklasse, Sonderklasse oder Heilpädagogischer Stützunterricht) unterscheiden. Die varianzanalytisch ausgewerteten Ergebnisse für die Gesamtstichprobe (N = 2104 Kinder) zeigen, dass Kinder, die ehemals eine Sonderklasse für Lernbehinderte bzw. einen sog. Heilpädagogischen Stützunterricht besucht haben, andere Berufsprestigewerte nennen, als Kinder, welche die ganze Schulbiographie in der Regelklasse durchliefen. Es ist wohl davon auszugehen, dass sich die Ergebnisse der Schweizer Kollegen auch in Deutschland und Österreich replizieren ließen.
Abgeschlossen wird diese Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung mit einer kritischen Rezension von Adreas Möckel, der im Rahmen der Besprechung des neuen Buches von Sieglind Ellger-Rüttgardt zur Geschichte der Sonderpädagogik seine Position in Bezug auf die Stellung der Heilpädagogik klärt, weil diese im vorliegenden Werk verkürzt und ergänzungsbedürftig zur Darstellung kommt – hier deutet sich also eine Kontroverse an, die man in Zukunft mit Spannung verfolgen kann.
Eine interessante Lektüre
wünscht Ihnen
Ihr Herbert Goetze
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