Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 2 2008
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Liebe Leserin und lieber Leser der Heilpädagogischen Forschung,
die universitäre Sonderpädagogik befindet sich in einem Veränderungsprozess, der Hoffnungen, aber auch viele Befürchtungen wach werden lässt. Durch den Bologna-Prozess sollte Europa im Hochschulbereich zusammenwachsen und eine optimale Nutzung der Wissensressourcen ermöglichen, indem man mit der Einführung eines gestuften Studiensystems (Bachelor und Master) zu europaweit vergleichbaren Abschlüssen kommen wollte. Eine Zwischenbilanz zur Umsetzung verleitet fast zu Pessimismus und Resignation, auch, was sonderpädagogische Studiengänge betrifft. Die Hochschule wird zur schlechten Schule vergangener Zeiten degradiert, verschulte Zwangsstudiengänge dominieren Interesse geleitete Studien; die Jagd nach Punkten und Zwischenzensuren setzt alle Beteiligten so unter Druck, dass Befürchtungen der inhaltlichen Nivellierung nicht unbegründet sind. Die Sonderpädagogik mit ihrem Qualitätsmerkmal der heterogenen Zugänge, Konzepte, Populationen und Institutionen wird in ein inhaltlich homogenisiertes Modularisierungskorsett gezwungen.
Wie heterogen das Feld der Sonderpädagogik ist, belegen die Beiträge dieser Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung, die ein breites Inhaltsspektrum von Lernprozessdiagnostik über Schülererwartungen und Metakognition bis hin zu Encountergruppen abbilden.
An erster Stelle erfolgt Jürgen Walters Beitrag zum curriculumbasierten Messen als lernprozessbegleitende Diagnostik; hier werden erste Ergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum zur Validität, Reliabilität und Veränderungssensibilität eines Indikators zur Lernfortschrittsmessung beim Lesen berichtet, wie dies in dieser Fachzeitschrift seit Längerem von Klauer gefordert wurde. Dieser Start in eine objektive Fortschrittsdiagnostik führt uns zu der Hoffnung, dass solche lernprozessbegleitenden diagnostischen Ansätze in Zukunft auch für andere Lernbereiche vorgeschlagen werden.
Mario Gieske und Stefanie van Ophuysen stellen anschließend ihre Forschungsarbeit über Erwartungen von Förderschülern an den Übergang in eine weiterführende Schule vor. Die Fragebogenuntersuchung mit Viertklässlern erbrachte positive, ambivalente und negative Einschätzungen, insbesondere ‘Vorfreude', aber auch ‘Besorgnis' hinsichtlich der noch unbekannten schulischen Situation. Schüler der Allgemeinen Schüler scheinen vergleichsweise positivere Erwartungen als Förderschülern zu produzieren. Darüber hinaus wurden weitere interessante Details ermittelt.
Heinrich Ricking von der Universität Oldenburg präsentiert einen Literaturüberblick zum Forschungsstand über die schulische Förderung von Metakognitionen und Lernstrategien im Kontext erschwerter Aneignungsprozesse. Inhaltlich geht es ihm um Möglichkeiten, wie eine metakognitive und lernstrategische Förderung für Schüler mit Lernproblemen konzipiert werden kann. Dabei zeigt sich, dass Lernstrategien und metakognitive Kompetenzen zum Aufbau von Lernkompetenz unter erschwerten Aneignungsbedingungen effektiv eingesetzt werden können.
Der abschließende Bericht handelt von einer ungewöhnlichen Intervention bei Förderschülern: Encountergruppengespräche. Hier ist der Versuch unternommen worden, ältere Schüler einer Allgemeinen Förderschule zu einer Encountergruppe zusammenzufassen, die nach dem humanistischen Konzept von Carl Rogers durch Gesprächsförderer begleitet wurde. Der Bericht hat nun zum Inhalt, worüber diese Schüler sprechen, wenn ihnen die Gelegenheit zur Selbstexploration gegeben wird. In Zeiten der einseitig auf kognitive Kompetenzsteigerung ausgerichteten Bildungsideologie setzt dieser Bericht ein besonderes Zeichen.
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen
Ihr
Herbert Goetze |