Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 1 2008
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Liebe Leserin und lieber Leser der Heilpädagogischen Forschung,
es will mir scheinen, als würde die Integrations-bzw. Inklusionsdiskussion langsam auf den Boden der gegebenen gesellschaftlichen Realitäten (zurück)geführt. Die Blütenträume einer heterogenen, reich ausgeschmückten sonderpädagogischen Landschaft scheinen ausgeträumt, auch wenn diese Einsicht noch nicht alle akademischen Diskussionszirkel erreicht zu haben scheint, wo mitunter mit verdeckten Karten und gespaltener Zunge die Realität den eigenen Ansichten angepasst wird. Da fordert ein Fachvertreter mit Vehemenz die Schaffung inklusiver Kulturen, zugleich wird ein behinderter Mitarbeiter seines Instituts in die Arbeitslosigkeit entlassen. So viel zur Glaubwürdigkeit der Schaffung inklusiver Kulturen im eigenen Hause.
Die Realität sieht leider so aus, dass allenthalben um die wenigen Ressourcen, die noch verblieben sind, gerungen werden muss. Aus Berlin erreicht uns gerade die Zeitungsnachricht (!), dass für Schüler mit geistigen Behinderungen weniger Lehrerstunden zur Verfügung gestellt werden sollen. „Schulen, die sich sehr um die Integration von geistig behinderten Kindern bemüht haben, werden zu den Verlierern gehören“, sagt die Leiterin der Berliner Heinrich-Zille-Grundschule. Es ist also an der Zeit, dass die empirische Forschung sich gezielt den Fragestellugen zuwendet, die sich auf die etablierte gemeinsame Beschulung richten. In diesem Sinne stellt an erster Stelle Christian Huber seine Studie zur sozialen Integration von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht vor und nimmt durchaus kritisch zur ideologiebefrachteten Integrationsdiskussion Stellung. Seine eigene Studie ging der Frage nach, inwieweit sich die bisher erzielten Ergebnisse der deutschen Integrationsforschung auch außerhalb von Modellversuchen wieder finden lassen. Dazu hatte er eine empirische Untersuchung durchgeführt, an der immerhin 650 Schüler beteiligt waren. Die Studie kommt dann zu einem hochinteressanten Ergebnis, was einerseits die soziale Integration von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf betrifft, andererseits die Effekte der von anderen Autoren so hoch bewerteten Gruppenheterogenität.
Mit ihrer Inhaltsanalyse der maßgeblichen wissenschaftlichen deutschsprachigen Zeitschriften, mit der immerhin die Jahre 1996 bis 2006 abdeckt werden, kommen Tobias Buchner und Oliver König aus Wien zu uns überraschenden Ergebnissen. Einmal mehr zeigt sich nämlich, dass der Anteil empirischer Forschungsarbeiten verschwindend gering ist, dass im Prinzip immer wieder dieselben Zielgruppen beforscht werden, dass dem außerschulischen Feld kaum Beachtung geschenkt wird und dass die Betroffenen selbst selten zu Wort kommen. Diese eher ernüchternde Analyse der Zeitschriftenpublikationen der letzten 10 Jahre müsste uns dazu aufrufen, die sonderpädagogische Forschung auf alle Lebensbereiche der Betroffenen auszuweiten.
An dritter Stelle legt Eberhard Grüning seinen Forschungsbericht zur Evaluation eines Programms zur Erweiterung emotionaler Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung vor. Bei diesem Programm handelt es sich um ein Novum insofern, als der häufig vernachlässigte Emotionsbereich programmatisch für den Unterricht im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung aufbereitet worden ist. Die hier vorgelegte Evaluation deutet in eine hoffnungsvolle Richtung, und man muss sich wünschen, dass dieses bisher vernachlässigte Forschungsfeld in Zukunft deutlicher in den Fokus tritt.
Abgeschlossen wird diese Ausgabe durch einen Bericht von Annette Textor über die sonderpädagogische Förderung im gemeinsamen Unterricht an Berliner Schulen aus dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Hier handelt es sich um eine Bestandsaufnahme, wie Integration in diesem Förderbereich in Berlin angelegt, wie sie realisiert wird und welche Defizite deutlicher Art sich dort weiterhin auftun. Die Hochschuldidaktische Seite und unser obligatorisches Glossar schließen dieses Mal die erste Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung ab,
Ihr Herbert Goetze
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