Vorwort zum Erfahrungsbericht von R. Müller
von Adrienne Biermann
Vor ca. einem Jahr nahm R. Müller Kontakt zu Prof. Dr. Heidemarie Adam auf, nachdem er ihren kritischen Artikel zum Thema Gestützte Kommunikation in Heilpädagogik online (Adam, 2003a) gelesen hatte. Er berichtete, wie er selbst und weitere Mitarbeiterinnen durch die vermeintlichen Aussagen eines als schwerst geistigbehindert geltenden, nicht sprechenden Mannes belastet worden waren. Diese Aussagen waren mittels einer Kommunikationsmethode zustande gekommen, die sich „Gestützte Kommunikation” nennt und sich in fachwissenschaftlicher Hinsicht als unsolide herausgestellt hat. Zum besseren Verständnis für die Hintergründe dieses extrem umstrittenen Verfahrens werden im Folgenden Informationen zum Verfahren zusammengefasst und weiterführende Literatur genannt.
Die Australierin Rosemary Crossley (1997) setzte bei einem schwerstbehinderten Mädchen Handführung und weitere nicht ganz so offensichtliche Formen physischer Unterstützung ein und glaubte, damit einen Weg gefunden zu haben, bisher verborgene Kommunikationsfähigkeiten von Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen ans Licht bringen zu können. Sie nannte ihre Form der Unterstützung „Facilitated Communication” (abgekürzt FC), setzte sie auch bei zahlreichen anderen Personen mit anderen Behinderungen ein und machte ihre Erfahrungen schließlich der Öffentlichkeit durch zahlreiche Publikationen zugänglich (Crossley, 1997). In der Fachöffentlichkeit wurde FC bekannt, nachdem ein bekannter Integrationspädagoge der Syracuse University (New York, USA), Douglas Biklen, Kontakt zu Crossley aufgenommen hatte. Biklen deutete die durch solche Stützung zu Stande gekommenen Botschaften unhinterfragt als originäre Kommunikationen der Betroffenen und machte die Methode dann in Publikationen und Kongressen einem weiteren Publikum bekannt (vgl. Biklen, 1993). Die großen amerikanischen Fernsehnetzwerke verbreiteten schließlich Nachrichten über diese an ein Wunder grenzenden Erfolge, so dass sich darauf hin FC Anfang der 1990er Jahre in den USA schnell verbreitete und von namhaften Organisationen propagiert wurde. Mit der üblichen Zeitverzögerung wurden diese Erkenntnisse dann auch von Deutschland und anderen europäischen Staaten importiert.
FC ist eine Methode, bei der eine stützende Person einer anderen mit schweren Kommunikationstörungen durch Berührung von Zeigefinger, Handgelenk, Arm, Schulter oder Kleidung dazu verhilft, auf Buchstaben (manchmal auch auf Bildsymbole) auf einer Buchstaben- bzw. Symboltafel, einem Computer oder einem Kommunikationsgerät zu zeigen. Problematisch ist dabei, dass zwei Personen an dieser Aktion beteiligt sind, die Person, bei der FC als Methode eingesetzt wird (auch FC-Nutzer genannt), und die Person, die den FC-Nutzer physisch unterstützt (auch Stützer genannt). Wer von den beiden Verursacher für das Zeigeergebnis ist, kann per Augenschein nicht entschieden werden; erst unter experimenteller Kontrolle lässt sich herausfinden, wer dafür ursächlich verantwortlich ist.
Von den Befürwortern der Methode werden die mit Stützung hervorgebrachten Auswahlen als authentische Kommunikation der Betroffenen interpretiert, der Einfluss der stützenden Personen wird für minimal gehalten und nicht verursachend angesehen. Durch das vermeintliche Aufdecken völlig unerwarteter Fähigkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung übt die gestützte Kommunikation eine große Faszination auf Eltern, Betreuer und sogar auf Professionelle aus.
Nachdem in den USA in den 90er Jahren vermehrt in durch FC zu Stande gekommene Texten Eltern und Betreuungspersonal des sexuellen Missbrauchs der FC-Nutzer beschuldigt wurden, kam eine rege Forschungstätigkeit in Gang, bei der unter kontrollierten Bedingungen aufgezeigt werden konnte, wer Verursacher der FC-Texte war, nämlich in nahezu allen Fällen die Stützer und nicht die Personen mit diagnostizierter geistiger Behinderung. So konnten die zu Unrecht Beschuldigten in den meisten Fällen rehabilitiert werden, meist aber erst, nachdem sie quälende Monate von ihren Kindern getrennt oder diese in Heime eingewiesen worden waren; in machen Fällen hatten die Angeschuldigten längere Untersuchungshaftzeiten zu überstehen, bevor sie frei gesprochen wurden.
Im deutschsprachigen Raum hätte die Diskussion um FC durch zwei kritische Buchpublikationen aus dem Jahre 1999 eigentlich geklärt sein müssen: Susanne Nußbeck veröffentlichte ihre Habilitationsschrift, in der sie u.a. die theoretischen Grundlagen zur geistigen Behinderung, zum Erwerb von Sprache und Schrift sowie zur globalen Apraxie daraufhin sichtete, ob sich in irgendeiner Weise das Zustandekommen der unerwarteten Kommunikation über die Methode der FC erklären ließe. Sie kam zu dem Ergebnis, dass sämtliche Annahmen und Grundlagen, mit denen FC-Befürworter ihre vermeintlichen Kommunikationsergebnisse zu erklären versuchen, auf dem Hintergrund des aktuellen fachwissenschaftlichen Standes nicht haltbar sind (Nußbeck, 2000). Adrienne Biermann legte in ihrer Dissertationsschrift eine Literaturanalyse von den bis dato erschienenen 44 wissenschaftlichen empirischen Untersuchungen vor, in denen der Fragestellung nachgegangen worden war, wer Verursacher von FC-Botschaften ist. Fast ausnahmslos zeigte sich in den experimentellen Untersuchungen, dass die FC-Nutzer nicht in Kommunikation treten konnten, wenn ihre Stützer nicht über das zu kommunizierende informiert waren. Wenn untersucht wurde, wer von den beiden am FC-Prozess Beteiligten Verursacher der FC-Botschaft war, so waren dies wieder mit überwältigender Mehrheit die stützenden Personen. Darüber hinaus ließ sich keinerlei Zusammenhang zwischen den theoretischen Annahmen der FC-Befürwortern und den Untersuchungsergebnissen herstellen (Biermann, 1999). Neben diesen beiden Buchpublikationen wurde in dieser und anderen Fachzeitschriften eine große Zahl von kritischen Artikel veröffentlicht (vgl. Biermann, 2000; Bober, 2000; Bober & Thümmel, 1999).
Bei dem von Herrn Müller geschilderten Fall wurde FC von der Therapeutin eingesetzt, um unerwartete Fähigkeiten bei dem Klienten zu aufzudecken. Bisher war anzunehmen, dass Anklagen wegen sexuellen Missbauchs mit Hilfe von Gestützter Kommunikation ein ausschließlich US-amerikanisches Phänomen seien. Der Bericht von Herrn Müller zeigt jedoch, dass auch im deutschsprachigen Raum auf Grund von vermeintlichen FC-Kommunikationen die Persönlichkeitsrechte zu Unrecht Beschuldigter massiv eingeschränkt und dass die Erkenntnisse der Fachwissenschaft nicht zur Kenntnis genommen werden. Dabei hätte eine simple Internetrecherche die Ankläger eines Besseren belehren können. Inzwischen kam uns zufällig ein weiterer Fall zur Kenntnis, bei dem der Betroffene sogar einige Monate in Untersuchungshaft verbringen musste, bevor er rehabilitiert werden konnte. Sexueller Missbrauch von Kindern, insbesondere von Kindern mit Behinderungen, scheint ein erschreckendes Ausmaß angenommen zu haben, wovor niemand die Augen verschließen darf. Zur Aufdeckungsarbeit ist jedoch der Einsatz zuverlässiger Methoden notwendig, wozu FC nicht gezählt werden kann.
Zusammenfassend ist also festzustellen: Die Gestützte Kommunikation kann nicht als eine Kommunikationsmethode bewertet werden, die zu einer zuverlässigen und authentischen Kommunikation führt. Kommunikationserfolge sind kaum nachweisbar, die Beeinflussung der FC-Botschaften durch die StützerInnen sind dagegen die Regel.
Der von Herrn MBBüller geschilderte Fall macht deutlich, welches Gefahrenpotenzial in der Methode steckt. Dies bezieht sich gerade auch auf die gestützt schreibenden Menschen, denen nicht präsente Fähigkeiten zugeschrieben werden. Dies hat in der Regel zur Folge, dass ihnen eine angemessene Förderung und angemessene Hilfen mit alternativen Kommunikationsmethoden vorenthalten bleiben. Deshalb ist vom Einsatz der FC dringend abzuraten; Kostenträger aus dem Bildungs-, Sozialhilfe- und Gesundheitsbereich sollten ihre Mittel für überprüfte und zuverlässige Methoden einsetzen, auch wenn sich hier die Erfolge nur mühsam und langwierig einstellen.
Die Redaktion der Heilpädagogischen Forschung möchte denjenigen, die mittels FC-Botschaften fälschlicherweise schwer wiegende Anschuldigungen, Anzeigen und Sanktionen hinnehmen mussten, eine Plattform anbieten, das erlittene Unrecht öffentlich zu machen. Bitte schreiben Sie die Redaktion an und teilen Sie uns Ihre Fakten mit; ihre Anonymität bleibt selbstverständlich nach außen hin gewahrt. In Zukunft ließe sich auch an die Etablierung einer Selbsthilfe-Gruppe denken (Kontaktadresse: goetze@uni-potsdam.de).
Literatur
Biermann, A. (1999).Gestützte Kommunikation im Widerstreit. Empirische Aufarbeitung eines umstrittenen Ansatzes. Berlin: Spiess.
Biermann, A. (2000). Gestützte Kommunikation: Ein Konzept zur Überprüfung der Authentizität und Effektivität einer umstrittenen Kommunikationsmethode. Sonderpädagogik, 30(1), 4–15.
Biklen, D. (1993). Communication unbound. How facilitated communication is challenging traditional views of autism and ability/disability. New York: Teachers College Press.
Bober, A. (2000). Bericht über die Münchner Studie zur Gestützten Kommunikation – Kritische Rezension des Abschlussberichts. Heilpädagogische Forschung, 26(4), 213–219.
Bober, A. & Thümmel I. (1999). Es kann doch zumindest nicht schaden? Risiken beim Einsatz von Gestützter Kommunikation. Die Neue Sonderschule, 44, 434–452.
Crossley, R. (1997). Gestützte Kommunikation. Ein Trainingsprogramm. Weinheim: Beltz.
Nußbeck, S. (2000). Gestützte Kommunikation: Ein Ausdrucksmittel für Menschen mit geistiger Behinderung? Göttingen: Hogrefe.
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Erfahrungsbericht
Ich arbeite seit zwölf Jahren im Behindertenbereich bei zwei Trägern in Österreich in unterschiedlichen Einrichtungen und Tätigkeitsbereichen. In meiner Eigenschaft als Leiter einer betreuten Wohngemeinschaft habe ich in den vergangenen Monaten außerordentlich negative Erfahrungen mit der Gestützten Kommunikation gemacht und möchte darüber berichten.
Zur Person des Gestützten und wie es zur Anwendung „Gestützten Kommunikation” in der Betreuungsarbeit kam.
Der Klient ist ein 55jähriger Mann mit geistigen Behinderung, seine ärztliche Diagnose lautet: Hydrocephalus int., Oligophrenie, beidseitige Schwerhörigkeit, Erethismus. Er lebt seit zehn Jahren in einer voll betreuten Wohngemeinschaft mit sieben MitbewohnerInnen und besucht eine Behindertenwerkstätte. Er ist ohne Lautsprache und wurde zu seinem Schutz – als Vermeidung von Selbstgefährdung, weil er nicht verkehrstüchtig ist – freiheitsbeschränkt, kann also die Wohngemeinschaft ohne Betreuung nicht verlassen. Seine Bedürfnisse sind über Ablehnung bzw. Annahme eines Angebotes zu erkennen. In lebenspraktischen Bereichen ist er soweit in der Lage, dass er sich im Wohnhaus, in dem er lebt, zurechtfindet (Badezimmer, WC, Esszimmer, sein eigenes Zimmer). Er ist nicht in der Lage sich selber zu versorgen, benötigt Unterstützung bei der Körperhygiene. In seinem Zimmer hat er seine eigene Ordnung und beschäftigt sich öfters mit Puzzeln, die er mit Ausdauer fertig zusammenbaut, und dem Einordnen von Gegenständen.
L. wurde als Kind und als Jugendlicher und junger Erwachsener von der Haushälterin in der Familie erzogen und begleitet. Es wurde viel Wert darauf gelegt, dass L. nicht als behindert erscheint, zumindest nicht auf den ersten Blick. L. ist gut gekleidet und wirkt sehr gut erzogen und angepasst. Es war den BetreuerInnen in der Wohngemeinschaft nicht möglich auch nur ein Stück weit in die Erlebniswelt von L. vorzudringen, daher führte dies lange Zeit zu einer gewissen ‚Mystifizierung‘ des Klienten.
Als dann im Jahr 2000 in Österreich die neue Methode der „Gestützten Kommunikation” aufkam, war der damals logische Schritt, L. dies zu ermöglichen, um endlich Gewissheit über seine Fähigkeiten und erstmals Einblick in seine Bedürfnisse gewinnen zu können. Dazu wurde eine Psychotherapeutin gefunden, die zu diesem Zeitpunkt als einzige in Österreich mit dieser Methode arbeitete. Sie begann zunächst mit L. und einem weiteren Mitbewohner, der autistische Wesenszüge aufweist, zu „schreiben”. Die Einheiten mit dem zweiten Mann wurden bald darauf von ihr beendet, da er nicht kooperativ war. Er lehnte Körperkontakt weitestgehend ab und begann, Sessel aus Ärger umzuwerfen. L. hingegen war und ist Körperkontakt nicht abgeneigt, z.B. klatscht er gerne in die Hände der BetreuerInnen. Den bei FC notwendigen Körperkontakt hat er gerne zugelassen.
Die „Ergebnisse” der Gestützten Kommunikation und die Auswirkung sowohl auf die gestützte Person sowie sein Betreuungsteam. Zunächst schrieb nur die Stützerin mit dem Klienten und sie teilte den BetreuerInnen anfänglich die Ergebnisse mit. Es herrschte große Aufregung im Team, erstmals war es scheinbar möglich mit L. zu kommunizieren, dies bedeutete sozusagen eine Revolution in der Betreuungsarbeit. L. konnte nun endlich Auskunft über seine Befindlichkeit und seine Bedürfnisse geben.
Das ganze Team war motiviert FC zu erlernen, um mit dem Klienten kommunizieren zu können. Deshalb wurden alle von der Therapeutin in diese Methode eingeschult. Schon bei der Einschulung kamen bei einzelnen BetreuerInnen die ersten Zweifel an der Authentizität der Texte auf. Einige hatten das Gefühl, dass nicht L. die Hand zur Buchstabentafel führt, sondern im Zuge der Einschulung die Therapeutin. Es fiel auf, dass das von L. Geschriebene, vom Sinn und Wortlaut her sehr merkwürdig war. Z. B. äußerte er „ich liebe Eiterekel” und andere nicht nachvollziehbare Äußerungen.
Die Therapeutin vermochte es, zumindest anfänglich die Bedenken zu zerstreuen, indem sie darauf hinwies, dass L. eben eine andere Sicht der Welt hätte und jeder Zweifel daran seine Gefühle verletzen könnte. Diese Argumentationslinie zog sich wie ein roter Faden durch die Zusammenarbeit mit der Therapeutin und war zumindest vorerst dazu geeignet, kritische Äußerungen aus Respekt vor dem Klienten zu unterbinden bzw. ihm weiterhin die Möglichkeit der Kommunikation mittels FC zu bieten.
Nach der Einschulung der BetreuerInnen begann nun jeder einzelne mit mehr oder weniger Erfolg mit L. zu schreiben. Es stellte sich heraus, dass L. gerade mit jenen Personen schrieb, die an FC glaubten und mit jenen BetreuerInnen, die Zweifel daran hatten, nicht. Dies wurde von der Therapeutin wieder damit begründet, dass L. genau spüre, ob er ernst genommen werde oder nicht. Den Personen, mit denen L. schrieb, teilte er mit, dass er z.B. in die Oper gehen möchte. Dies wurde ihm umgehend ermöglicht, jedoch ohne Erfolg. Nach wenigen Minuten mussten er und seine Betreuerin die Oper wieder verlassen, da er sich sichtlich unwohl fühlte. Erst nach dem Verlassen der Oper ließ seine Anspannung nach.
Im weiteren Verlauf der Förderung mit FC stellte sich auch heraus, dass L. mit der stützenden Person stets jene Dinge „besprach”, die die stützende Person zum derzeitigen Zeitpunkt selbst beschäftigte. So wollte er plötzlich Wein trinken, nachdem die Betreuerin ein Weinseminar besucht hatte – auch hier wurde ihm das ermöglicht, jedoch schmeckte ihm der Wein sichtlich nicht. Auch einfache Aussagen von L. mittels FC konnten oft nicht verifiziert werden – z.B. antwortete er oft auf die Frage zur Teilnahme an einer Außenaktivität mit „Ja”, tatsächlich zeigte er jedoch keine sichtbare Motivation, diese mitzumachen.
Im Team kam es zu Kontroversen. FC wurde zur Glaubensfrage, löste viele Diskussionen aus und verhinderte lange Zeit eine andere Form der Unterstützten Kommunikation mit dem Klienten. Gleichzeitig „schrieb” die Therapeutin weiterhin einmal in der Woche mit ihm und es kam zu erstaunlichen Ergebnissen. So spricht L. nach Angaben der Stützerin sechs Fremdsprachen – darunter Latein, Griechisch und Schwedisch, ebenso wäre er hochintelligent. Der vom BetreuerInnen-Team geforderte Beweis dafür wurde von der Therapeutin niemals erbracht, sie argumentierte damit, dass eine Überprüfung den Gestützten nicht nur schwer kränken würde, sondern er würde dies sofort bemerken und daher jegliche Kommunikation ablehnen. Gelernt habe er diese Sprachen nebenbei aufgrund seiner hohen Intelligenz. Jegliche, auch einfache Überprüfungstests wurden von der Stützerin sofort abgelehnt.
Im Laufe der Zeit wurde der ursprünglichen Auftrag, L. in die FC einzuführen und ihm zu helfen, mit Stützung zu kommunizieren (Schreiben zu lernen), von der Therapeutin stillschweigend und ohne Absprache mit dem Umfeld des Klienten verändert. Sie glaubte, dass L. eine psychotherapeutische Behandlung brauche, um sein volles intellektuelles Potenzial auszuschöpfen. Mit dem Hinweis auf das Therapiegeheimnis hat die Therapeutin auch keine Informationen bezüglich der Aussagen des Gestützten mehr an die BetreuerInnen weitergegeben.
Im Zuge dieser Behandlung diagnostizierte sie aus den FC-Ergebnissen bei ihm eine dissoziative Persönlichkeitsstörung. Sie behauptete nun, dass der Klient bis zu 60 Persönlichkeiten aufweise. Diese Diagnose diente der Therapeutin als Begründung dafür, dass die Äußerungen mittels FC nicht mit seinem tatsächlichen Handeln korrelierten und keine Zusammenhänge mit seinem Tun erkennbar waren.
Der behandelnde Hausarzt und die psychiatrische Fachärztin des Klienten haben diese Diagnose als unrichtig bezeichnet. Inzwischen hatte sich das BetreuerInnen Team und die zuständige pädagogische Bereichsleitung mit der vorliegenden Fachliteratur auseinander gesetzt. Man nahm an, dass es sich bei den von L. gestützt geschriebenen Wortkombinationen nicht um authentische Aussagen von ihm handelt. Deshalb wurde beschlossen, FC nicht mehr als Kommunikationsmittel für diesen Klienten im Rahmen der Wohngruppe einzusetzen. Trotzdem wurde dem Klienten weiterhin die Möglichkeit geboten, Besuche in der Praxis der Therapeutin zu machen und dort weiter gestützt zu schreiben.
Dass dies ein fataler und schwerwiegender Irrtum war, wurde erst im Nachhinein klar. Auf Forderungen der Therapeutin im Zusammenhang mit den angeblich von L. gewünschten Maßnahmen ging das BetreuerInnen-Team zunächst noch ein, als sich jedoch zeigte, welchen Stress und Unruhe diese Maßnahmen wie zum Beispiel spezielle Filterbrillen, Vitaminpräparate aus Amerika beim Klienten L. auslösten, wurde davon Abstand genommen. Die Kommunikation wurde nach Teambeschluss und wieder in Absprache mit dem Bereichsleiter auf organisatorische Belange beschränkt, dies wurde durch den Wohnhausleiter der Therapeutin schriftlich mitgeteilt.
Die Beziehung von Stützerin zum Gestützten
Die Therapeutin hatte, wie schon beschrieben, den Auftrag L. in die Gestützte Kommunikation einzuführen und im Idealfall soweit zu bringen, dass er auf Stützung nicht mehr angewiesen ist. Schleichend veränderte sie ihre Funktion bis hin zur Psychotherapeutin von L., bis sie sich schließlich als einzige Person sah, die in der Lage wäre mit L. zu kommunizieren bzw. ihn zu verstehen. Ihr Agieren als Psychotherapeutin wurde im zunehmenden Maße unprofessionell, sie überschritt immer öfter ihre Kompetenzen als Therapeutin. Sie gab dem Klienten ein privates Fotoalbum von sich mit, machte einen Zahnarzttermin für ihn aus ohne Absprache mit den BetreuerInnen oder der zuständigen Sachverwalterin, um ihm alle Zähne ziehen zu lassen. Auf Zweifel von BetreuerInnen bezüglich der tatsächlichen Fähigkeiten des Klienten reagierte sie immer ungehaltener. Es schien, als ob die Stützerin die Absicht hatte, L. von seiner Behinderung zu „hei- len". Nachdem ihr Agieren für die MitarbeiterInnen nicht mehr akzeptabel war, wurde ihr durch den Wohnhausleiter, nach Beschluss im BetreuerInnen-Team, sowie der Bereichsleitung der Zugang zu L.s Wohnhaus verboten. Ebenso wurde beschlossen, dass die Einheiten bei ihr nun auch nicht mehr als Freizeitaktivität angesehen werden könnten und beendet werden müssten, da ihr Agieren den Grundsätzen des pädagogischen Handelns der BetreuerInnen sowie eines professionellen Umgang zwischen Therapeut und Klient widerspreche.
Etwa einen Monat später begann sie mit der Dokumentation des angeblichen sexuellen Missbrauchs durch den Wohnhausleiter sowie zwei weiteren Betreuerinnen. Um ihre Behauptungen zu untermauern zog die Therapeutin eine von ihr benannte „internationale Expertin” aus Deutschland hinzu. Diese traf sich einmal mit dem Klienten und „bescheinigte” dem Klienten, dass er trotz seiner geistigen Behinderung in der Lage sei mittels FC zu kommunizieren und sein „Augenrollen” bei Nennung der Namen der Beschuldigten ein Beweis für den Missbrauch sei. Diese Dokumentation gab sie dann an die Staatsanwaltschaft weiter, danach erfolgten stundenlange Untersuchungen in der Wohngemeinschaft und in den privaten Räumlichkeiten der Beschuldigten.
Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft die Weiterverfolgung der Anzeige aufgrund der Haltlosigkeit der Beschuldigungen abgelehnt. Die Verarbeitung dieser massiven, Existenz bedrohenden und verleumderischen Rufschädigungen und Eingriffe in die persönliche Freiheit der einzelnen Betroffenen ist nicht abge- schlossen. Diese Falldarstellung soll aufzeigen, welche Gefahren diese Methode in sich birgt, sowohl für den „Gestützten" als auch für jene Personen im Umfeld der gestützten Personen, die um ihre persönliche Freiheit bangen müssen. Es soll jene, die noch immer an dieser Methode festhalten, zur längst überfälligen kritischen Auseinandersetzung bewegen bzw. anderen, die den Einsatz dieser „Methode” erwägen, eine Entscheidungshilfe bieten.
Resümee
Rückblickend betrachtet war es eine schwerwiegende Fehlentscheidung, FC nach einer Auseinandersetzung mit der Methode gegen jeden Zweifel und Vernunft einzusetzen bzw. auch noch nach Erkennen der Unsinnigkeit die Stützerin weiterhin mit L. arbeiten zu lassen. Der Klient wurde über Jahre nicht immer als der Mensch, der er ist, wahrgenommen und respektiert, sondern es wurde teilweise an seinen Bedürfnissen vorbei gehandelt, Fähigkeiten, die er nicht besitzt, wurden ihm zugestanden anstelle von Förderung der tatsächlichen Ressourcen bzw. wurde er aufgrund der unreflektierten Ergebnisse manchmal Situationen ausgesetzt, die ihn sehr belasteten.
Die Einheiten mit der Therapeutin wurden von der Krankenversicherung des Klienten teilweise ersetzt. Es ist nun zu befürchten, dass der Klient in der näheren Zukunft für andere sinnvolle Maßnahmen keine Unterstützung gewährt bekommt. Die Ereignisse in dieser Falldarstellung mögen vielleicht eine extreme Ausnahme im deutschsprachigen Raum sein. In den USA hat es vor Jahren ähnliche Beschuldigungen gegeben. Teilweise kam es zu Haftstrafen für die beschuldigten Personen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt rehabilitiert wurden (vgl. Probst, 2003). Dies war den drei beschuldigten BetreuerInnen zum Zeitpunkt der Anzeige bekannt. Sie fürchteten um ihre persönliche Freiheit. Es war ja nicht auszuschließen, dass diese Rufschädigung zu dem Verlust des Arbeitsplatzes führen würde. Auch L. hätte im schlimmsten Fall aus seinem vertrauten Umfeld herausgerissen werden können.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohneinrichtung haben schlimme Jahre und Monate hinter sich. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen möchten wir dazu ermutigen, mit FC als Kommunikationsmethode äußerst vorsichtig und sehr kritisch umzugehen.
Es verwunderte kaum, dass vor allem der Wohnhausleiter am massivsten den Anschuldigungen ausgesetzt war, da er in seiner Funktion als Leiter der Wohngemeinschaft der Therapeutin das Hausverbot ausgesprochen hatte. Genauso die beiden anderen beschuldigten Betreuerinnen, die Leiterstellvertreterin und die Bezugsbetreuerin des Klienten, weil auch diese zwei Personen im Vorfeld Friktionen durch die Therapeutin aufgrund ihres grenzüberschreitenden Verhaltens ausgesetzt waren.
Literatur
Probst, P. (2003). Gestützte Kommunikation: Eine unerfüllbare Verheißung. Verfügbar unter: www.rrz.uni-hamburg.de/Paul.Probst/pp-orginalarbeiten-autismus/gk-verheissung-1.pdf [02.09.2003].
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