Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 3 2006
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Liebe Leserin und lieber Leser der Heilpädagogischen Forschung,
in Bremen, so will es scheinen, wird nun auch das letzte sonderpädagogische Tafelsilber verscherbelt. Auf Druck des Bremer Senats hatte die Universität die feste Absicht, den Studiengang Behindertenpädagogik zu streichen. Proteste waren nicht umsonst und haben nun zu der Frage geführt, ob das Fach selbstständig erhalten bleiben soll oder woanders in der Pädagogik unterkommt. Allerdings: Das Aufgehen in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft als der historisch gesehenen Rabenmutter jeder Sonderpädagogik führt zwangsläufig in eine bildungspolitische Sackgasse. Leider gibt es Belege dafür, wie eine nicht selbstständige Sonderpädagogik leicht als Streichungsopfer herhalten kann. Es gibt anscheinend zukunftsträchtigere Aufgaben – wie die zeitverschoben aus den USA importierte Exzellenzinitiative. Wohin dann mit der bisher vorhandenen universitären Sonderpädagogik? In Bremen wie auch woanders (z.B. in Potsdam) setzt man auf biologische Lösungen und wartet ab, bis das Personal die Altersgrenze erreicht hat und ausscheidet – am Bremer Beispiel: das Ausscheiden von Feuser und Jantzen –, womit sich dann weitere Diskussionen erübrigen. In einem Interview kann Wolf- gang Jantzen dann nur noch sarkastisch hinzufügen, dass die Exzellenzinitiative wohl dazu führen soll, dass auch der Rektor mit Exzellenz angeredet werden soll, während es zu einer geradezu sträflichen Vernachlässigung der Sozial- und Humanwissenschaften in Bremen kommt.
Auch von anderer Bremer Stelle gibt es weitere Hiobsbotschaften: Bremen beherbergt eine effiziente und traditionsreiche schulische Einrichtung für Schüler mit Verhaltensstörungen, die Fritz-Gansberg-Schule. Nach meinem Wissen handelt es sich um eine der wenigen Schulen für Erziehungshilfe in Deutschland, die innenarchitektonisch auf der Grundlage eines pädagogischen Konzepts gebaut worden ist. Man könnte nun denken, dass diese Jahrzehnte alte Einrichtung ein unantastbares Vorzeigekind der Bremer Bildungspolitik ist, doch weit gefehlt: Der Bremer Senat reagiert auf den demographischen Wandel angesichts leerer Stadtkassen ausschließlich fiskalisch. In die rein ökonomisch motivierten Überlegungen kommt die Fritz-Gansberg-Schule mit ihrem Gelände gerade recht, es bietet nämlich fantastische Vermarktungschancen. Man kann nur den Kopf schütteln ob solcher historischer und bildungspolitischer Blindheit. Es sind garstige Lieder, welche die Bremer Stadtmusikanten da angeschlagen haben!
Dass eine Allgemeine Erziehungswissenschaft nie in der Lage sein wird, das breite Spektrum sonderpädagogischer Aufgabenstellungen abzudecken, dafür bietet die vorliegende Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung mit weit auseinander liegenden Forschungsthemen ein prägnantes Beispiel.
An erster Stelle gehen Alfred Schabmann und Petra Öllinger der Frage nach, ob Leseleistungen und Lesemotivation von Schülern aus österreichischen Alternativschulen im Vergleich zu jenen von Regelschülern am Ende der Hauptschule vergleichbar ausfallen. Wolfgang Sonntag ist mit seiner Forschungsarbeit der Hypothese nachgegangen, ob lernschwache Schüler aufgrund ihrer Lernprobleme nur mit einfachen, leichten Sach- und Textaufgaben konfrontiert werden sollten, oder ob anspruchsvollere Alternativen sinnvoll sind. Nach einer kurzen, nur vierstündigen Intervention, mit der gezielt von mechanistischem Lernen abgewichen wurde, zeigten sich unerwartete Lernerfolge, die die Ansicht, dass diese Schüler nur zu einem rein mechanischen Abarbeiten vorher im Unterricht durchgenommener Aufgaben in der Lage sind, als Vorurteil entlarvt. Allerdings macht ein entsprechend gestalteter Unterricht einen höheren Vorbereitungsaufwand notwendig, wenn auf Verstehen und Problemlösen anstelle von Denkmechanik gesetzt werden soll. In eine ganz andere Forschungsrichtung geht der Beitrag von Marcus Reeh und Christiane Kiese-Himmel, die das phonologische Arbeitsgedächtnis und den rezeptiven Wortschatzumfang hörbehinderter Kinder untersucht haben. Konkret ging es um die Frage, ob hörbehinderte, mit Hörgeräten versorgte Kinder ein eingeschränktes phonologisches Arbeitsgedächtnis aufweisen und ob ggf. ein defizitäres phonologisches Arbeitsgedächtnis mit Einschränkungen im rezeptiven Wortschatzumfang korrespondiert. Die Ergebnisse stellen manches Lehrbuchwissen nun gründlich in Frage. Schließlich wendet sich Alexander Wertgen einer sonderpädagogischen Kategorie zu, die bisher in der Forschungsdiskussion deutlich vernachlässigt worden ist: dem Hausunterricht bei chronisch kranken Kindern. Wertgens Argumentationen zeigen ein kaum zu überwindendes Dilemma des Hausunterrichts auf: Einerseits sollen die Kinder den schulischen Anschluss nicht verlieren, andererseits nehmen die institutionellen Vorgaben der neuzeitlichen stationären Krankenversorgung keinerlei Rücksicht auf eine spezifisch krankenpädagogische Förderung insbesondere der Kinder, die bereits durch ihren Herkunftstatus benachteiligt sind.
Die vorliegende Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung befasst sich also mit so unterschiedlichen Förderbedarfen, die nun einmal bei Kindern mit Lernstörungen und -behinderungen, mit Hörbehinderungen und bei chronisch kranken Kindern gegeben sind. Wir sind aufgerufen, für diese Kinder in der Forschung und in der Bildungspolitik zu streiten, sollen sie nicht endgültig ins gesellschaftliche Abseits geraten.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre,
Ihr Herbert Goetze
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