Heilpädagogische Forschung
 
Editorial von Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 4 2005

Liebe Leserin,
lieber Leser der Heilpädagogischen Forschung,

ein weiteres Jahr ist ins Land gegangen, und ob es ein gutes Jahr für die Sonderpädagogik war, das muss dahingestellt bleiben. Umbrüche kennzeichnen die Situation an den Ausbildungsinstitutionen, v.a. geprägt durch die Umstellung der Studiengänge auf Bachelor- und Master-Abschlüsse. Es scheint, als ob wir von einer Verbesserung und auch Vereinheitlichung der sonderpädagogischen Ausbildung noch weit entfernt sind, im Gegenteil, es zeichnet sich ab, dass die renovierten Ausbildungsgänge bald wieder einer Revision unterzogen werden müssen.

Aber auch auf anderen Ebenen stehen die Dinge nicht zum Guten: Im Editorial der Zeitschrift Sonderpädagogik gibt der Herausgeber in eigener Sache zu erkennen, dass „die schleswig-holsteinische Bildungspolitik es für richtig befunden hat, ab Oktober 2005 die sonderpädagogische Ausbildung von der Universität Kiel nach Flensburg zu verlagern”, und weiter: „Nach Einschätzung zahlreicher Sonderpädagogen ist diese (allein politisch motivierte) Entscheidung ... als bedeutsamer Rückschritt zu bezeichnen, der die Qualität der Ausbildung von Sonderpädagogen stark gefährdet.” Solche Entwicklungen müssen wir erst einmal zur Kenntnis nehmen, wir werden sie aber künftig auch kritisch in Hinblick auf den wissenschaftlichen Output verfolgen.

Der Forschungsoutput, der Ihnen mit dieser Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung präsentiert wird, ist von hohem wissenschaftlichem Rang. Im ersten Beitrag von Saskia Schuppener geht es um die Erfassung von Selbstkonzepten von Menschen mit geistiger Behinderung; in der Untersuchung wurden insgesamt positive Selbstbilder sowie kategoriale und geschlechtsbezogene Differenzen innerhalb der geäußerten Selbstkonzepte von 114 Untersuchungspersonen deutlich, die Anlass für weiterführende Forschungsfragen hinsichtlich der Denk- und Handlungsstrukturen bei Personen mit geistiger Behinderung bieten. Margit Stein hat sich im zweiten Beitrag mit dem Störungsbild des Prader-Willi-Labhart-Syndroms empirisch auseinander gesetzt: 16 Prader-Willi-Labhart-Syndrom-Patientinnen und -Patienten wurden neuropsychologisch untersucht; dabei zeigten sich in fast allen Bereichen Auffälligkeiten, v.a. hinsichtlich Intelligenz, Gedächtnisleistungen, Aufmerksamkeit und Verhaltensregulation. Als Vermutung für weitergehende Hirnforschungen ergibt sich, dass aufgrund des Störungsbildes auf generalisierte, jedoch nicht auf eine Hirnseite beschränkte Störungen im anterioren und im posterioren Bereich des Gehirns geschlussfolgert werden kann, wobei insbesondere der Frontallappen als stark gestört erscheint. Zu selten noch werden Kontroversen in sonderpädagogischen Fragen aufgegriffen und einer empirischen Klärung zugeführt. „Bevorzugen Kinder mit Autismus einen am Detail orientierten Wahrnehmungsstil?” Diese Ausgangsfrage von Christoph Müller und Susanne Nußbeck liegt dem dritten Forschungsbeitrag zu Grunde, in welchem es im Kern um die Auflösung eines Widerspruchs geht, der bisher kaum aufgelöst erscheint. Dazu stellten die beiden Autoren 15 autistischen und 11 normal entwickelten Kindern die Aufgabe, sich zwischen einer globalen und einer lokalen Lösungsstrategie zu entscheiden. Es zeigte sich, dass beide Versuchsgruppen globale und lokale Merkmale korrekt erkennen, dass jedoch die autistischen Probanden häufiger zu Lösungen mit richtigen lokalen, aber falschen globalen Merkmalen kamen, womit klar wurde, dass autistische Kinder eine Tendenz zeigen, trotz ihrer intakten globalen Fähigkeiten einen am Detail orientierten Wahrnehmungsstil vorzuziehen. Ein völlig anderes Terrain betritt Weisser mit seiner Arbeit zur jüngeren Geschichte der deutschsprachigen Sonderpädagogik; es geht ihm um den seinerzeit so häufig debattierten Strukturwandel der sog. Hilfsschule. Der Forschungsbeitrag untersucht mit den Mitteln der historischen Diskursanalyse Aufstieg und Niedergang der Debatte um den Strukturwandel der Hilfsschule zwischen 1950 und 1970, womit veränderte Aufgaben der Hilfsschulpädagogik der Nachkriegszeit gemeint waren. Mit dem Übergang der Hilfsschulpädagogik zur Lernbehindertenpädagogik, so Weisser, kam auch die Vermutung auf, es hätte den Strukturwandel nie gegeben. Die Rekonstruktion zeigt jedoch etwas anderes und fordert zu Reflexionen über das Verhältnis von Behinderung und Bildungsinstitutionen heraus, die sich mit Sicherheit nun auch im kommenden Jahr aufdrängen werden!

Ihr

Herbert Goetze
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aktualisiert am 17.12.2005