Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 4 2004
Liebe Leserin und lieber Leser der Heilpädagogischen
Forschung,
ein Jahresende verleitet üblicherweise zu einem Rückblick, und man fragt sich, was das vergangene Jahr an erfüllten Erwartungen und enttäuschten Hoffnungen gebracht hat. Der sonderpädagogische Rückblick auf das Jahr 2004 kann leider kaum Highlights aufweisen, denn es hat weiterhin Entwicklungen gegeben, die zur Sorge Anlass geben können, und zwar bezogen auf die akademische wie die schulpädagogische Ebene. Im universitären Raum ist die Situation nach wie vor dadurch gekennzeichnet, dass Ressourcen in sächlicher wie personeller Hinsicht weiterhin zurück gefahren werden, indem Studienorte aufgegeben und Lehrstuhlvakanzen nicht gefüllt werden – bei gleichzeitiger Erhöhung der Studierendenzahl und Studieninteressenten. Man kann für Kollegen an manchen Instituten nur noch Mitleid empfinden, die in würdeloser Umgebung mit letzter Kraft in aussichtsloser Lage gegen den gegen die Sonderpädagogik gerichteten Zeitgeist ankämpfen. In schulischer Hinsicht sieht vielerorts die Situation nicht anders aus. Angesichts finanzieller Engpässe sehen sich immer mehr Bildungsministerien dazu genötigt, kurz-, mittel- und langfristige Überlegungen dazu anzustellen, wie der aufwändige Förderbedarf zurück gefahren werden kann. So wird z.B. in Brandenburg derzeit daran gearbeitet, die noch gar nicht so alte Sonderpädagogikverordnung mit dem Ziel zu ‚reformieren‘, Förderbedarfe und Förderorte zu reduzieren; Förderschulen sollen geschlossen werden, wenn sie nicht mindestens zweizügig pro Klassenstufe geführt werden können, woraus sich zwangsläufig das „Aus” für viele kleinere, hoch effiziente Einrichtungen ergibt. Fort- und Weiterbildungen sollen möglichst vom günstigsten Anbieter durchgeführt werden, wobei der günstigste Anbieter natürlich nicht die beste Qualität bieten muss. Wir schauen also mit Beklommenheit auf das Jahr 2004 zurück und mit Sorge in die Zukunft des Jahres 2005 und werden Fehlentwicklungen öffentlich beim Namen nennen.
Ein Rückblick in das letzte Jahr kann leider auch traurige Erinnerungen ganz anderer Art wach rufen, denn wichtige Menschen, die für das Fach so bedeutsam waren, sind nicht mehr unter uns. Gerade ereilt uns die Nachricht, dass Prof. Dr. Walter Piel, Emeritus der Universität Dortmund, verstorben ist. Walter Piel war sicherlich für manche kein bequemer Zeitgenosse. Die Älteren unter uns werden sich der Verdienste Walter Piels sehr wohl bewusst sein, denn unter seiner Ägide haben sich Schüler entwickeln können, die heutzutage zum Establishment der universitären Sonderpädagogik gehören wie Fritz Masendorf, Burkhart Roeder, Johann Borchert, Herrmann Meyer, Reimer Kornmann, Rudolf Kretschmann; aber auch der Schreiber dieser Zeilen darf sich glücklich schätzen, von Piel in vielfältiger Weise gefördert worden zu sein. Wenn man sich vor Augen hält, welchen prägenden Einfluss die Schüler Walter Piels für die deutschsprachige und auch internationale Sonderpädagogik gespielt haben, so kann man sich vor der großen Aufbauleistung Walter Piels nur verbeugen. Wir verneigen uns vor ihm mit großem Dank.
Auch die letzte Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung dieses Jahres enthält wiederum hoch interessante Beiträge, an erster Stelle berichten Gerhard Lauth, Nadine Scherzer und Thomas Otte über den aus dem Kölner Institut bekannten metakognitiven Ansatz zur Förderung von Kindern mit geistigen Behinderungen. Ein weiterer Beitrag von Friedrich Linderkamp ging der interessanten Frage nach, welcher Stellenwert der biologisch-organischen Störungsbasis bei Kindern mit oppositionellem Trotzverhalten und mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen zukommt. Die Ergebnisse werden Sie überraschen. Im Artikel von Christiane Kiese-Himmel und Silke Ohlwein geht es um eine Zielgruppe, die bisher in der Heilpädagogischen Forschung wenig vertreten war, um schwerhörige Kinder. Es ging spezifisch um die Frage, wie sich der Wortschatz hörbehinderter Kinder in Abhängigkeit von ihrem Hörstörungsgrad verändert und entwickelt. Im letzten Beitrag von Christian Klicpera und Barbara Gasteiger Klicpera geht es um die Begutachtung bei sonderpädagogischem Förderbedarf, dieses Mal wurden Bezirksschulräte und Leiter von sonderpädagogi-schen Zentren in Österreich befragt, die unterschiedlichen Bundesländern entstammten. Im Ergebnis zeigte sich, dass beim Erstellen der Gutachten nicht nur die Leistungsentwicklung, sondern auch die Unterrichtssituation berücksichtigt worden ist, und dass auch Empfehlungen für die weitere Förderung gegeben werden; es bleiben aber noch manche Fragen offen. Im Rezensionsteil dieses Heftes finden Sie Buchbesprechungen von Veröffentlichungen, die neueren, die aber auch schon etwas älteren Datums sind. Sie entstammen alle der Feder von Christian Klicpera, der sich die Mühe gemacht hat, gewichtige Veröffentlichungen der letzten Jahre für Sie zu rezensieren.
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen
Ihr Herbert Goetze
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