Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 2 2004
Liebe Leserin und lieber Leser der Heilpädagogischen
Forschung,
man darf sich ein weiteres Mal um die Existenz der universitären
Behindertenpädagogik sorgen, dieses Mal weht der Gegenwind jedoch
aus einer anderen Richtung: "Exzellenz" ist neuerdings an den Universitäten
angesagt, und damit ist nicht ein Ehrentitel gemeint, sondern höchster
akademischer Anspruch, den zu erfüllen nur wenigen Universitätsmitgliedern
möglich sein wird. Ich selbst habe dieses Wort als "excellence"
Ende der 80iger Jahre in den USA erstmalig gelesen und konnte damals
noch nicht viel damit anfangen. Als Schlagwort, als Modeerscheinung
zog "excellence" anschließend jedoch in sämtliche politischen Verlautbarungen
amerikanischer Universitäten und Colleges ein.
Mit der üblichen zeitlichen Verzögerung ist nun auch diese Innovation
von drüben nach Europa und Deutschland importiert worden, allerdings
hier mit anderer Schattierung: ‚Exzellenz' zu fördern, hat hier
zu Lande die Befürworter von sog. Eliteuniversitäten auf den Plan
gerufen, die mit dieser Idee "Leuchttürme" im Meer des akademischen
Mittelmaßes zu schaffen gedenken. Mit Atem beraubender Geschwindigkeit
werden nicht weniger als 2 Mrd. ? zur Verfügung gestellt, die v.a.
in exzellente Hochschuleinrichtungen fließen sollen. Was man dabei
leider aus den USA nicht übernommen hat, ist die Finanzierungshöhe
der "Leuchttürme"; die ausgeworfene Gesamtsumme entspricht in etwa
gerade einmal dem Jahreshaushalt einer einzigen amerikanischen Eliteuniversität,
der Harvard-Universität. Man fragt sich unwillkürlich, wessen Interessen
hier eigentlich bedient werden sollen. Wie soll internationale Erstrangigkeit
und damit Qualitätssteigerung herbeigeführt werden, wenn zugleich
die Leistungsfähigkeit normal arbeitender Hochschulen durch massive
Verknappung der Mittel massiv eingeschränkt wird? Hautnah erlebe
ich, wie Mitarbeiterstellen ersatzlos gestrichen, wie Professuren
nicht wieder besetzt, wie Juniorprofessoren mit 1350 Euro Gehalt
im Monat buchstäblich abgespeist werden. Qualitätssteigerungen und
Hochleistungen unter solchen Vorzeichen? Vielleicht werden Sie danach
fragen, welchen Bezug diese Entwicklungen zur akademischen Behindertenpädagogik
haben. Die Antwort gibt bereits die gegenwärtige Praxis der Vergabe
von Mitteln für sonderpädagogische Forschungsbereiche: Im Vergleich
schneiden diese nämlich vergleichsweise extrem schlechter ab als
die angeblich zukunftsträchtigen neueren Innovationsrichtungen.
Wenn also forschungsbezogen die Behindertenpädagogik gegenwärtig
eher auf den hinteren Rangplätzen rangiert, so kann man annehmen,
dass nicht sie, sondern andere Exzellenzbereiche in Zukunft in den
Genuss zusätzlicher Förderungen kommen. V.a. in der akademischen
Lehre wird sich dieser Trend vermutlich verheerend auswirken, wenn
ein Hochschullehrer sich gezwungen sieht, sich an der geforderten
"Exzellenz" auszurichten, will er nicht ins Hintertreffen geraten,
und auch hier sprechen amerikanische Entwicklungen für sich. Da
die Behindertenpädagogik kaum ein Feld ist, in welchem revolutionäre
Entwicklungen zu erwarten sind, werden sich die höheren Zuweisungsinstanzen
anderen, verheißungsvolleren Forschungsgebieten zuwenden. Mit der
jüngsten Schließung sonderpädagogischer Studiengänge und mit der
aktuellen Reduzierung von Aus- bildungskapazitäten sind Zeichen
gesetzt, die in die Richtung weisen, dass die Förderung von ‚Exzellenz'
an der Behindertenpädagogik vorbei gehen wird, eine verhängnisvolle
Entwicklung zeichnet sich ab.
In verkleinertem Maßstab hat die Heilpädagogische Forschung schon
immer versucht, Exzellenz in der Behindertenpädagogik zu fördern
und zu etablieren. Dies trifft auch auf die beiden Forschungsbeiträge
zu, die Sie in diesem Heft verfolgen können. Matthias Grünke legt
eine Arbeit vor, in der untersucht wird, inwieweit die Rational
Emotive Erziehung (REE) nach Albert Ellis auch bei jungen Menschen
mit Lernbehinderungen erfolgreich angewendet werden kann. Die Ergebnisse
seiner Evaluationsstudie sprechen für einen globalen Trainingseffekt
und füllen damit eine vorhanden gewesene Forschungslücke in der
Anwendung der REE im Feld der Lernbehinderungen. Ein weiterer Beitrag
von Ute Ritterfeld befasst sich mit der Spezifischen Spracherwerbsstörung.
In größerem Ausmaß nimmt der Beitrag eine zusammenfassende Beschreibung
des Störungsbildes vor und diskutiert Folgen sowie theoretische
Erklärungen. Der Abdruck dieses Beitrages stellt für die Heilpädagogische
Forschung ein Novum dar: Es handelt sich um einen vergleichsweise
umfänglichen Artikel; die Redaktion hat sich jedoch dazu entschlossen,
ihn in voller Länge aufzunehmen, weil die Autorin, die gegenwärtig
an der University of Southern California in Los Angeles lehrt und
forscht, einen exzellenten Überblick über die Forschungslage zum
Thema liefert, einen Überblick, der im Moment in der deutschsprachigen
Literatur seinesgleichen sucht. Die Autorin erfasst sämtliche Teilaspekte
der Spracherwerbsstörungen und verarbeitet deutschsprachige wie
internationale Literatur. Würde man einen Preis für exzellente Beiträge
ausloben, Ute Ritterfeld hätte ihn mit diesem Beitrag verdient.
Die Heilpädagogische Forschung wird fortfahren, ihrer Leserschaft
weiterhin exzellente Beiträge der Behindertenpädagogik anzubieten.
Ihr Herbert Goetze
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