Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 4 2003
Liebe Leserin und lieber Leser der Heilpädagogischen
Forschung,
das soeben vollendete Jahr 2003 war insgesamt kein gutes Jahr für
die akademische und praktische Sonderpädagogik, denn an zu vielen
Stellen wurden Ressourcen für die Betroffenen zurück gefahren, als
dass man begründete Hoffnung für eine positive Wende in 2004 haben
dürfte. Immerhin hat es im akademischen Sektor jedoch einige bemerkenswerte
(Wieder-)Besetzungen von Hochschullehrerstellen gegeben, so dass
auf dieser Ebene die personelle Kontinuität zunächst einmal gesichert
scheint. Qualitätsmanagement ist allenthalben angesagt! Dass sich
auch Förderschulen und Hochschulen Qualitätsüberprüfungen zu stellen
haben, kann durchaus als positives Signal verstanden werden, Ballast
abzuwerfen und sich auf die eigentlichen fachlichen Aufgaben zu
konzentrieren. Das vielerorts Einzug haltende Primat der Ökonomie
droht nun allerdings das Primat der fachlichen Qualität der Sonderpädagogik
im Schul- und Hochschulbereich zu verdrängen. In Brandenburg, davon
konnte ich mich jüngst überzeugen, sind manche Schulen für Geistigbehinderte
zu 75% mit wenig oder gar nicht für die schwierigen Aufgaben ausgebildetem
Personal ausgestattet, eine der Kehrseiten des ökonomischen Primats.
Inwiefern allerdings manche Missstände der Sonderpädagogik nicht
auch durch falsche Denkansätze hausgemacht sind, darüber ließe sich
streiten. Wer für die Verteilung der knappen Ressourcen für die
sonderpädagogischen Arbeitsbereiche verantwortlich ist, wird hellhörig,
wenn er das Schlagwort von der ‚Abschaffung der Sonderpädagogik'
hört, wenn ihm ein Buchtitel wie ‚Behinderungen überwinden' in die
Hände fällt, oder wenn er erfährt, dass als einziges Indiz für die
Bestimmung der lernbehinderten Zielgruppe ausschließlich die Zuweisung
zur sonderschulischen Institution gelten soll, oder wenn allen Ernstes
für Behinderte kein besonderer, dafür aber ein besonders guter allgemein
bildender Unterricht gefordert wird. Was für fantastische Einsparmöglichkeiten
tun sich da auf, ganze Institutionen abzuschaffen und Lehrkräfte
weniger aufwändig auszubilden! Mir kommt bei derlei Tendenzen, die
die gegenwärtige Fachdiskussion prägen, die historische Wahrheit
in den Sinn, dass vergangenes Unrecht - das Verfrachten behinderter
Menschen ins gesellschaftliche Abseits - nicht durch neues Unrecht
beseitigt werden kann.
Die Heilpädagogische Forschung ist im vergangenen Jahr ihrem Leitbild
treu geblieben, die solide Arbeit von Forschern sonderpädagogischer
Spezialgebiete der Fachöffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen und
nicht ideologisch motivierten, rhetorisch eingängigen Modetrends
hinterher zu laufen. In diesem Sinn bietet die vorliegende Ausgabe
wiederum vorzügliche Arbeiten zu unterschiedlichen Forschungsgegenständen.
An erster Stelle wendet sich Adrienne Biermann mit ihrer Arbeit
der Alternativen Kommunikation zu und entwickelt auf Grund ihrer
differenzierten Analysen der gegenwärtig vorherrschenden diagnostischen
Ansätze ein eigenes Diagnose-Förderkonzept, das im gegenwärtigen
Schrifttum seines Gleichen sucht. Dabei handelt es sich zudem um
ein wissenschaftlich fundiertes, weitgehend empirisch abgesichertes
Konzept, das in idealer Weise die Kluft zwischen fachlichen Ansprüchen
von Theorie und Praxis überwinden hilft - welches derzeit gehandelte
Konzept kann solchen Anspruch schon einlösen?
Wolfgang Lenhard wird anschließend den Zusammenhang zwischen pränataler
Diagnostik und selektivem Fetozid auf die Inzidenz von Behinderungen
untersuchen - fast ein Tabu-Thema. Der Autor zeigt in eindringlicher
Weise auf, welche fast unbemerkten gesellschaftlichen Tendenzen
das Thema des Schwangerschaftsabbruches derzeit beherrschen, und
welche drastischen Konsequenzen sich künftighin für die Zusammensetzung
der Schülerschaft an Förderschulen einstellen werden, Tendenzen,
die in Ansätzen bereits heute an Förderschulen für Körperbehinderte
und Geistigbehinderte sichtbar werden.
Denise Theiß, Adri Vermeer und Oliver Stoll haben sich der Mühe
unterzogen, die bekannten Harterschen Kompetenzskalen für die Population
der Personen mit geistiger Behinderung zu analysieren, Faktorenstrukturen
zu extrahieren und Reliabilitäten zu errechnen. Damit haben die
Autoren einen hoch zu schätzenden Beitrag zur Persönlichkeitsdiagnostik
geistig Behinderter geliefert.
Ein weiterer Forschungsbeitrag von Volker Runow und Johann Borchert
wird insbesondere bei Praktikern erhebliche Unruhe herauf beschwören.
Die beiden Autoren fragen danach, ob denn pädagogische Interventionen,
die sich forschungsbezogen als effektiv erwiesen haben, von Pädagogen
auch als wirksam und empfehlenswert eingeschätzt werden. Das Ergebnis
dieser Studie wird Sie vielleicht überraschen.
In dieser Ausgabe finden Sie darüber hinaus eine größere Zahl an
kritischen Rezensionen, die dem sonst üblichen Motto ‚Gelobt sei
der Autor' nicht unbedingt folgen.
Eine interessante Lektüre der Beiträge dieser Ausgabe wünscht Ihnen
Ihr Herbert Goetze
|