Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 2 2003
Liebe Leserin und lieber Leser der Heilpädagogischen
Forschung,
in diesem Land gehen derzeit Umbrüche vonstatten, die noch vor
kurzer Zeit für undenkbar gehalten wurden. Kein Tabu bleibt ausgespart,
viele Bereiche stehen auf dem Prüfstand, und es will scheinen, dass
der Rotstift gerade bei denen angesetzt wird, die der Hilfe am meisten
bedürfen, die kaum über eine Lobby verfügen, von denen kaum Widerstand
zu erwarten ist und bei denen sich die öffentliche Meinung einig
ist, dass Opfer von den Betroffenen in berechtigter Weise erwartet
werden können. Es scheint, als seien die sozialen Bereiche von derlei
Tendenzen besonders betroffen, also auch jene Pädagogik, die sich
für Menschen mit Behinderungen einsetzt. Bezeichnenderweise setzt
man dort an, wo Finanzbürokraten Kostenintensität und damit Sparpontenziale
ausgemacht haben: bei den Institutionen selbst. Entsprechend sind
in den letzten Jahren Einschnitte an jenen Ausbildungsinstitutionen
zu beobachten, die sich mit der Behindertenpädagogik befassen. Das
Fallbeil setzte vor wenigen Jahren am Institut für Sonderpädagogik
der Universität Potsdam an: Nachdem mit Millionenaufwand dieses
Institut errichtet worden war, erkannte die Brandenburger Bildungs-
und Wissenschaftspolitik - auf Grund fehlerhafter Statistiken -,
dass das neu gegründete Institut überflüssig sei; die zuständige
Fakultät unter dem Dekanat des Pädagogen Hanno Schmitt hatte dann
nichts Eiligeres zu tun, als den Beschluss zu fassen, das fragliche
Institut zu schließen. Konnte das Potsdamer Beispiel noch unter
'östlicher Exotik' verbucht werden, so muss man nun einen Trend
erkennen, der auf die Existenz anderer Institute abzielt: Das älteste
und - historisch gesehen - wichtigste Institut für Heil- und Sonderpädagogik
in Deutschland an der Universität Marburg hat seit dem 1. April
2003 seine Pforten geschlossen, zum überwiegenden Teil ist das wissenschaftliche
Personal an die Universität Gießen zwangsverlagert worden. Interessant
ist die Begründung der zuständigen Wissenschaftsministerin Ruth
Wagner, von der dieser Schritt folgendermaßen begründet wurde: Die
wünschenswerte integrative Ausbildung, die den Absolventen eine
"bessere und umfassendere Qualifizierung" vermittele, könne nur
vom Standort Gießen (und Frankfurt) angeboten werden, an dem das
Fächerspektrum des Lehramts an Grundschulen voll vertreten sei.
Im Klartext: Die Wissenschaftspolitik des Landes Hessen nutzt Integrationsbestrebungen
als Vorwand, um das renommierteste Institut Deutschlands zu schließen
- fürwahr eine Begründung, die selbst die entschiedensten Befürworter
einer Vollintegration betroffen machen muss. Den für Heilpädagogen
historischen Standort Marburg zugunsten des unhistorischen Standortes
Gießen aufzugeben, hat Georg Feuser - mit Blick auf die jüngere
deutsche Geschichte - zurecht als Akt der Zerstörung von Kultur
und der Barbarei bezeichnet. Nun ist aus dem Norden ein weiterer
Akt geschichtlicher Barbarei zu vermelden: Die Kieler Landesregierung
hat beschlossen, bei umgehender Inkraftsetzung das Kieler Institut
für Heilpädagogik nach Flensburg zu verlagern. Da nutzt nun auch
kein gegenteiliges Votum der Kieler Universität mehr, die zurecht
argumentiert, dass enge Kooperationsmöglichkeiten mit der Medizin
und anderen angrenzenden Fächern in Flensburg und die Dichte entsprechender
Förderschulen für die praktische Ausbildung der angehenden Sonderschullehrer
verloren gehen, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, Lehrbeauftragte,
insbesondere für die schulpraktische Ausbildung, zu gewinnen. Die
Reaktion des Ministeriums: Dann werden schulpraktische Studien eben
abgeschafft! Ich hatte mir mit einer Nachfrage beim Ministerium
erlaubt, die fachlichen Gründe für die Entscheidung in Erfahrung
zu bringen, und wurde auf die Begründung der eingesetzten Fachkommission
verwiesen, in deren Papier der lapidare Satz zu finden ist: Die
Kommission empfiehlt, das Institut für Heilpädagogik der Universität
Kiel sowie den wesentlich durch dieses Institut getragenen Studiengang
Erziehungswissenschaften nach Flensburg zu verlagern. Man darf wohl
daraus schließen, dass nicht-fachliche Gründe für die Zerstörung
der Kieler Ausbildungskultur in Heilpädagogik maßgeblich gewesen
sind. Vor Redaktionsschluss erreicht uns eine neue Hiobsbotschaft
in Form eines Hilferufes eines Kollegen von der Lüneburger Universität:
"Die neue Landesregierung hat ... Sparmaßnahmen eingeläutet, die
die Existenz unserer Universität in Frage stellen. Es lohnt sich
aber, um diese Uni zu kämpfen, weil sie (1) die effektivste Universität
im Lande ist und (2) die beliebteste Uni in Niedersachsen ist."
Der Kollege bittet darum, mit Hilfe einer Postkartenaktion an den
Ministerpräsidenten Wulff gegen den geplanten Eingriff zu protestieren.
Angesichts dieser beklemmenden Entwicklungen dürfen wir nicht passiv
bleiben; Georg Feuser hat dazu aufgerufen, mutig und ungebrochen
tätig zu bleiben. In diesem Sinn bleibt die Heilpädagogische Forschung
mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln ihren Zielen treu. So werden
Sie in dieser Ausgabe zwei Beiträge von zwei tot geglaubten Universitätsstandorten
der Heil- und Sonderpädagogik, Marburg und Potsdam, finden: In Marburg
hat sich Heike Schnoor mit Mitarbeitern um die Frage des Qualitätsmanagements
in Form der Einrichtung von Qualitätszirkeln bemüht und berichtet
mit einer qualitativen Studie über die Arbeitsweisen solcher Teams
im Rahmen einer schulischen Einrichtung für Erziehungshilfe. Aus
Potsdam liegt eine Einzelfallstudie zum Erfolg der Life-Space-Konfliktlösungsintervention
vor: Sie werden über die Ergebnisse dieser Studie sicherlich überrascht
sein. Dieses Heft der Heilpädagogischen Forschung wird eingeleitet
durch eine breiter angelegte Untersuchung von Kolleginnen der Heilpädagogischen
Fakultät der Universität zu Köln, die der Frage nachgegangen sind,
wie gut die Kooperation zwischen Lehrkräften an Sonderschulen und
denen an allgemeinen Schulen hinsichtlich der Feststellung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs funktioniert. Die Ergebnisse sollten uns zu denken
geben. An zweiter Stelle steht eine Untersuchung von Wiener Kollegen,
die am Ende der Grundschulzeit Schüler und Eltern bezüglich der
gemeinsamen Unterrichtung über ihre sozialen Erfahrungen im schulischen
Zusammenleben befragt haben. Die Ergebnisse stimmen einerseits nicht
besonders optimistisch, andererseits lassen sie erkennen, wo positive
Erfahrungen gemacht wurden und an welchen Stellen Integrationsbemühungen
gezielter zu intensivieren sind. Damit bietet Ihnen diese Ausgabe
der Heilpädagogischen Forschung wiederum ein breites Inhaltsspektrum
an heilpädagogischen Forschungsthemen von den unterschiedlichsten
Ausbildungsstandorten an, deren Existenz weiterhin wachsam beobachtet
werden muss.
Ihr Herbert Goetze
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