Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 1 2003
Liebe Leserin und lieber Leser der Heilpädagogischen
Forschung,
Sie werden vielleicht in der letzten Ausgabe der Heilpädagogischen
Forschung das gewohnte Editorial vermisst haben; an Stelle des Editorials
hatten wir - sozusagen an vorderster Stelle - eine Resolution zum
Einsatz der Gestützen Kommunikation (‚facilitated communication')
abgedruckt, die bereits von vielen Fachleuten unterzeichnet war
und mit der um weitere Unterschriftsleistungen geworben wurde. Die
Resolution ist nicht ohne Widerhall geblieben, und zwar mit positiven
("Macht dem Spuk endlich ein Ende!") wie auch negativen Reaktionen
("Stehen die Zeiten wieder auf Bücherverbrennungen?"). Als Schriftleiter
der Heilpädagogischen Forschung begrüße ich Reaktionen auf die Resolution,
zeugen sie doch von einer engagierten Auseinandersetzung mit einer
im wahren Sinne des Wortes fragwürdigen Interventionsmethode; allerdings
sind auch Leserbriefe eingegangen, die auf Grund unsachlicher Argumentation
- Verunglimpfungen und persönliche Anfeindungen gegen Initiatorinnen
und Unterzeichner der Resolution eingeschlossen - nicht Gegenstand
einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein können. Die engagiert
vorgetragenen Gegenpositionen, also die FC-Befürwortungen, führen
ethische, soziale, sozialpolitische, humanitäre und alltagspraktische
Erfahrungen ins Feld. Als Tenor ist vielfach der moralische Vorwurf
vernehmbar, die FC-Kritiker würden mit derlei Initiativen dazu beitragen,
eine unter großen Schwierigkeiten für die Betroffenen erlangte Ressource
Preis zu geben, und sie würden sich logischerweise damit den Vorwurf
der Behindertenfeindlichkeit einhandeln. Wer sich in der Materie
nicht auskennt, könnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass FC-Kritiker
einer Methode der liebevollen Zuwendung den Kampf angesagt haben,
die im Rufe steht, verschüttete Potenziale bei schwer behinderten
Kindern freilegen zu helfen. Die Heilpädagogische Forschung versteht
sich als wissenschaftliches Publikationsorgan, das dem primären
Ziel verpflichtet ist, Forschungsanliegen der akademischen Heilpädagogik
publik zu machen. Das Hauptkriterium der sachlichen Auseinandersetzung
wird deshalb ein wissenschaftliches sein, und an dieser Stelle nimmt
die Heilpädagogische Forschung Partei für die Wissenschaftlichkeit
von Erkenntnissen. Legt man das Kriterium der Wissenschaftlichkeit
an die FC-Methode an, stehen die Karten schlecht für die FC-Befürworter.
Vielerorts - und das hat die Debatte leider auch ans Tageslicht
befördert - hat man den derzeitigen Kenntnisstand nicht zur Kenntnis
genommen (oder nehmen wollen?). Der Schreiber dieses Editorials
hat in einem anderen Zusammenhang die Erfahrung machen müssen, dass
hier zu Lande in der Fachdiskussion gern tot geschwiegen wird, was
fachlich oder politisch so gar nicht ins Bild passen will. Nicht
nur historische Erfahrungen sollten uns lehren, die altera pars
zu respektieren und ihr Gehör zu verschaffen - was die Inhalte dieses
Heftes nun allerdings widerspiegeln sollen. Theo Klauß als Vertreter
eines moderat positiven Standpunktes zum FC-Einsatz wird seine,
mit Eindringlichkeit und Fachkenntnissen fundierten Bedenken gegen
die in der Heilpädagogischen Forschung abgedruckte Resolution zum
Ausdruck bringen. Die Resolutions-Initiatorinnen werden in zwei
eigenen Beiträgen darauf eingehen, Susanne Nußbeck mit einem kürzeren,
Allmuth Bober mit einem ausführlicheren. Sämtliche Beiträge sind
von dem Grundsatz getragen, das Phänomen FC einer sachlichen Aufklärung
zuzuführen und sich dabei der persönlichen Polemik und Unterstellung
zu enthalten. Das Redaktionskomitee der Heilpädagogischen Forschung
hat diesem Diskussionsthema absichtsvoll einen breiten Raum gewähren
wollen, um dem FC-Thema endlich die durch zeitlich zurück liegende
Publikationen erhoffte und bisher nicht erreichte fachlichwissenschaftliche
Aufmerksamkeit bahnen zu helfen.
Obwohl diese Auseinandersetzung in dieser Ausgabe einen breiteren
Raum in Anspruch nimmt, sind dennoch originäre Arbeiten ganz anderer
Art in diesem Heft aufzufinden.
An erster Stelle werden im Beitrag von Gerhard Lauth und Stephan
Freese Effekte einer Therapie mit aufmerksamkeitsgestörten/hyperaktiven
Kindern berichtet, bei der Selbststeuerungs- und Planungsfertigkeiten
vermittelt worden sind. Es wird gefolgert, dass sich das störungsspezifische
Verhalten der Kinder nachdrücklich verbessert hat, was sich auch
in einer Nachuntersuchung nach sechs Monaten zeigte. Die Autoren
vertreten die Ansicht, dass die Vermittlung von Selbstregulations-
und Planungsfertigkeiten günstige Voraussetzungen für ein angemesseneres
Unterrichtsverhalten erbringt, zur Stabilisierung dieses Effektes
aber eine ergänzende verhaltensbezogene Beratung des Klassenlehrers
notwendig ist. Was diesen Beitrag wissenschaftsmethodisch besonders
auszeichnet, ist der Erkenntniszugang über die kontrollierte Einzelfallforschung,
eine inzwischen längst bekannte, aber in der deutschsprachigen Sonderpädagogik
weithin ignorierte Forschungsstrategie.
Das Fragile-X-Syndrom ist Gegenstand einer weiteren Forschungsarbeit
von Klaus Sarimski. Das Syndrom ist von besonderer Relevanz, weil
es als eine der häufigsten ererbten Ursachen einer intellektuellen
Behinderung gilt. Sarimski legt hier Daten zum Schulbesuch, zur
Zufriedenheit der Eltern mit der schulischen und sozialen Situation,
zu adaptiven Kompetenzen und problematischen Verhaltensmerkmalen
aus Sicht der Eltern und der Lehrer bei Jungen mit FraX-Syndrom
vor. Die Ergebnisse stellen eine besondere Herausforderung für die
Förderung von Kindern mit FraX-Syndrom hinsichtlich des schulischen
Lernens und der sozialen Integration dar. Damit überreichen wir
Ihnen ein weitere, in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Ausgabe
unserer Zeitschrift. Wir freuen uns auf Ihr Leseinteresse!
Ihr Herbert Goetze
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