Editorial von
Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 4 2001
Im jüngst erschienen Handbuch der sonderpädagogischen
Psychologie hat der Gewährsmann der deutschsprachigen empirischen
Sonderpädagogik, Karl Josef Klauer, zu Recht darauf hingewiesen,
dass die Klagen vergangener Jahrzehnte, die Heil- bzw. Sonderpädagogik
empirisch weiter zu fundieren, bisher weithin ohne Konsequenzen
geblieben sind. Klauer hat deshalb an gleicher Stelle Thesen zur
Neuorientierung der Forschung formuliert. In Thesenform fordert
er, dass unsere Forschung internationaler werden müsste und theorieorientierter
sein sollte, und dass sie schließlich methodologisch ein gewisses
Niveau nicht unterschreiten dürfe und diesbezüglich anspruchsvoller
werden müsse. Wenn man sich die gegenwärtig vorhandene Veröffentlichungslandschaft
der Sonderpädagogik darauf hin anschaut, wird man enttäuscht werden:
Weder werden aktuelle Wissensbestände des Auslandes systematisch
rezipiert, noch findet in größerem Umfang eine theoriegeleitete
sonderpädagogische Forschung statt, und von einem anspruchsvollen
methodischen Niveau kann ebenfalls nur in Ausnahmefällen die Rede
sein. Ich möchte das an zwei Beispielen belegen und spreche damit
auch das Anliegen der HEILPÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG an. Da hat man
doch (mit der üblichen zeitlichen Verzögerung) einen in den USA
vor einigen Jahrzehnten enthusiastisch verfochtenen Kommunikationsansatz,
die sog. Gestützte Kommunikation (engl.: facilitated communication),
nach Deutschland importiert. Die Internationalität der Bemühungen
verlor sich dann jedoch schnell, als sämtliche experimentellen Validierungsversuche
in den USA fehl schlugen und man versäumte, auch diese unerwarteten
Ergebnisse in Deutschland zu rezipieren. Statt dessen wurden erhebliche
Geldmittel in Forschungsunternehmen gesteckt, die der Verifikation
eines Phänomens dienen sollen, das in den USA von der scientific
community längst zu den abgelegten Wissenschaftsbeständen gezählt
wird. Meine entsprechende Nachfrage bei amerikanischen Kollegen
ergab dann auch ein Kopfschütteln, warum man sich mit solchen widerlegten
Ansätzen in Deutschland noch beschäftigt. Ein anderes Beispiel zum
methodologischen Niveau von Veröffentlichungen: Da erscheint aktuell
in einer Konkurrenzzeitschrift ein Aufsatz zum ‚dialogischen Prinzip
in der Sonderpädagogik': Die Betroffenen müssten mehr Gehör finden,
so der Tenor des Artikels, sie seien kaum Gegenstand sonderpädagogischer
Reflexion, weil es so schwer sei, in Erfahrung zu bringen, wie der
andere die Dinge sieht; man solle z.B. das Denken des geistig behinderten
Menschen über sich selbst zum Ausgangspunkt machen, um zu einer
Theorie ‚von innen heraus' zu finden etc. etc. Inhaltlich wird man
bei Experten wohl kaum noch jemand finden, der dem dialogischen
Prinzip in der Sonderpädagogik widersprechen würde. Wissenschaftsmethodologisch
ergibt sich allerdings das Problem, wie die Aussagen wissenschaftlich
validiert werden können. Die Autoren selbst führen als Belege ‚Beispiele
aus der Literatur' von Betroffenen und ‚Aussagen von Experten' an,
eine methodische Basis, die ein wissenschaftliches Niveau nicht
erreicht. In dieser Ausgabe der HEILPÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG wird
genau dieses Problem von Mike Ruef aufgegriffen. Ruef fragt - vom
dialogischen Prinzip ausgehend - sehr konkret danach, wie Betroffene
mit Behinderungen Verhaltensweisen sehen, die von anderen als Verhaltensstörungen
etikettiert werden. Seine Ausführungen verbleiben jedoch nicht auf
dem Niveau fundierter Meinungen; er geht der Frage vielmehr mit
Methoden der qualitativen Forschung nach. Ich würde mir wünschen,
dass im Sinne der oben zitierten Klauerschen Forderungen möglichst
viele Forschungsarbeiten hier zu Lande entstehen, die die Tradition
qualitativer Forschung fortsetzen, in der Mike Ruef mit seinen Forschungsbemühungen
steht. In dieser Ausgabe der HEILPÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG finden
Sie noch zwei weitere, sehr bemerkenswerte Forschungsbeiträge: Friedrich
Masendorf, Roman Lengsdorf und Matthias Grünke legen Daten aus einem
größeren Projekt zur Berufsvorbereitung von lernbehinderten Jugendlichen
vor und zeigen auf, wie mit unterrichtlichen Mitteln das praktisch_technische
Verständnis trainiert werden kann. Henri Julius entwickelt auf dem
Hintergrund der empirisch orientierten Bindungsforschung Modellvorstellungen
zu schulischen Interventionen für bindungs- und verhaltensgestörte
Schüler. Sein Beitrag verbindet theoriegeleitete Forschungsbemühungen
mit praktischer Relevanz in einer Weise, wie dies im in- und ausländischen
Schrifttum bisher nicht veröffentlicht worden ist. Üblicherweise
schließen sich in diesem Heft die Kategorien ‚Berichte' - dieses
Mal aus Österreich -, die hochschuldidaktische Seite mit Feedbackfragen
zu den Forschungsartikeln, und - in größerer Zahl - Neuerscheinungen,
Rezensionen und Ankündigungen an. Lassen Sie uns für die kommenden
Jahre auf ein angehobenes Niveau der deutschsprachigen sonderpädagogischen
Forschung hoffen!
Ihr Herbert Goetze
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