Heilpädagogische Forschung
 
Editorial von Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 2 2001

Weiterhin durchlebt die akademische Behindertenpädagogik stürmische Zeiten, wenn man 'die Empfehlungen zur Lehrerbildung' der sog. Expertenkommissionen zur Kenntnis nimmt, und es ist nicht abzusehen, wann der Sturm sich legen wird. Die Gegner der Behindertenpädagogik, persönlich bzw. familiär von Behinderungen eher selten betroffen, sehen sich weiterhin im Aufwind, Sachmittel zu kürzen, Streichungen vorzunehmen und dabei Lippenbekenntnisse abzulegen, 'in dieser schwierigen ökonomischen Situation alles für die Behinderten zu tun'. Die Auswirkungen solcher Vogel-Strauss-Wissenschafts- und Bildungspolitik lassen nicht lange auf sich warten. Allenthalben sind trotz Rückganges der Schülerzahlen die sonderpädagogischen Förderbedarfe im Ansteigen begriffen. So ist die Zahl der Erstklässler mit Förderbedarf in den letzten fünf Jahren um 3% gestiegen. Etwa 15% der Kinder aus risikobelasteten Elternhäusern werden einer sonderpädagogischen Förderung empfohlen. Seit der systematischen Einführung des Gemeinsamen Unterrichts sind in den USA, aber auch hier zu Lande die Förderbedarfe um ein Vielfaches angestiegen. Die Versorgung mit Lehrkräften ist diesem Trend nicht etwa gefolgt, sie ist reduziert worden. Noch vor kurzem ist vom Studium der Sonderpädagogik jenen pädagogisch interessierten, jungen Menschen abgeraten worden, die bereits heute in den Förderschulen dringend benötigt werden. Man nimmt es einfach hin, dass mancherorts der Förderunterricht an Förderschulen von Lehrkräften erteilt wird, die zu 50% keine sonderpädagogische Ausbildung aufweisen. Die personellen Verhältnisse im Gemeinsamen Unterricht sehen noch katastrophaler aus, was das Ausbildungsniveau betrifft!

Das Ausmaß der sonderpädagogischen Unterversorgung ist damit noch keineswegs ausreichend thematisiert. Ein in dieser Beziehung seit Jahrzehnten unterversorgter Bereich ist die Berufsausbildung von Risikojugendlichen. In dieser Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung findet sich ein Beitrag von Johann Borchert und Rolf Boysen, der sich mit diesem bisher so sträflich vernachlässigtem Gebiet befasst. Die Autoren haben die Effektivität einer Weiterbildungsmaßnahme für Berufsschullehrkräfte zur Gestaltung ihres Unterrichts von leistungsschwachen und/oder verhaltensproblematischen an berufsbildenden Schulen evaluiert und haben zu Ergebnissen gefunden, die dem Vorurteil der Praxisferne" solcher Fortbildungen widersprechen.

Die Untersuchung von Günter Faber ging der Frage nach, ob Schüler, die rechtschreibspezifische Leistungsängste aufweisen, sich von ihren Lehrern verstanden fühlen. Die aufwendige Versuchsanordnung und varianzanalytische Auswertung der Ergebnisse belegt einmal mehr, dass die Ängstlichkeit der Schüler durch die informellen Diagnosen der Lehrkräfte nicht hinlänglich erfasst wird, wodurch sich fatale Konsequenzen für die weitere Förderung dieser Schüler ergeben können.

Die Studie von Henri Julius deckt in einem anderen Bereich erschreckende Missstände auf: Julius hat das Vorkommen von Gewalt-, Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen bei Schülern einer Schule für Erziehungshilfe und zum Vergleich bei Grundschulkindern erfasst und herausgefunden, dass erwartungsgemäß die Erziehungshilfekinder" vermehrt Misshandlungs-, Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen ausgesetzt sind; erschreckend sind die Prävalenzen, die im Wesentlichen aussagen, dass kaum ein Kind einer Erziehungshilfeschule von solchen extremen Stresserfahrungen nicht betroffen ist und dass auf diesem Hintergrund dringend eine Revision der Erziehungs- und Bildungspläne für diese Schülerklientel vorzunehmen ist.

Die Literaturanalyse von Barbara Gasteiger Klicpera, Christian Klicpera und Kathrin Hippler zum Problem der sozialen Anpassungsschwierigkeiten bei Schülern mit Lernstörungen und -behinderungen zeigt einmal mehr auf, wie eng die Zusammenhänge zwischen dem Lernen einerseits und dem sozial-emotionalen Status des Schülers andererseits sind; die umfängliche Literaturanalyse der Autoren erbringt auf dem Hintergrund von neueren Modellen der sozialen Informationsverarbeitung neue Erkenntnisse, die ältere, zu simple Annahmen als obsolet erscheinen lassen. Die Heilpädagogische Forschung wird darin fortfahren, Brennpunkte sonderpädagogischer Forschung aufzuzeigen. Ich wünsche unserer Leserschaft eine interessante Lektüre.

Ihr Herbert Goetze

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aktualisiert am 26.01.2004