Heilpädagogische Forschung
 
Editorial von Herbert Goetze aus: Heilpädagogische Forschung Nr. 1 2001

Die sonderpädagogische Diskussion wird zu Zeiten von Modeströmungen beherrscht, die häufig genauso schnell aktuell werden, wie sie wieder aus dem Blickfeld verschwinden. Es gibt jedoch Themen, die von dauerhafter Aktualität sind und über die letzten Jahrzehnte hinweg auch in der Forschung verfolgt wurden. Dazu gehören Probleme der Kinder, die durch soziale und personale Störungen auf sich aufmerksam machen, wie auch jener, die auf Grund einer Behinderung nur zu extrem eingeschränkter sozialer und sprachlicher Kommunikation in der Lage sind. Beiden Fragekomplexen werden Sie in diesem Heft begegnen. Zuerst werden Barbara Gasteiger Klicpera und Christian Klicpera, der Leserschaft der Heilpädagogischen Forschung schon länger auf Grund ihrer fundierten Feldforschungen bekannt, anhand ihrer, an größeren Stichproben gewonnenen Ergebnisse aufzeigen, wie eng der Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit und Sozialakzeptanz von Schülern ist. Sie kommen konsequenterweise zu dem Schluss, dass der Sozialkompetenz eine hohe prognostische Validität für spätere Fehlanpassungen in Form von Dissozialität oder Depressivität zukommt. Der dann folgende Beitrag aus unserem Hause entbehrt nicht einer gewissen politischen Brisanz. Es geht nämlich um das lange tabuisierte Thema der psychischen Gesundheit von Populationen aus den neuen Bundesländern. "Nun wächst zusammen, was zusammen gehört", hat Willy Brandt voller Optimismus 1989 verkündet. Und heute sind allenthalben Stimmen zu vernehmen, die Wiedervereinigung Deutschlands nicht mit pessimistischen Haltungen mies zu machen. Bezeichnenderweise leben die naiven Optimisten i.d.R. nicht im Brennpunkt des Geschehens, das politischerseits aus naheliegenden Gründen allzu häufig ‚schön geredet' wird. Um auf unsere Untersuchung zur Prävalenz von Verhaltensstörungen bei Brandenburger Grundschulkindern zurückzukommen: Das Brandenburger Bildungsministerium errechnete eine Zahl von 0,47 Prozent verhaltensgestörter Kinder und bewertete sie als undramatisch, da Brandenburg damit doch unter dem Bundesdurchschnitt von 1% läge. Die schulische Alltagsrealität, die Erfahrungen der Lehrerschaft, aber auch tägliche Zeitungsmeldungen sprechen da eine ganz andere Sprache. Auf Grund der von uns erhobenen repräsentativen Schätzungen muss leider davon ausgegangen werden, dass das Ministerium sich um nicht weniger als das Dreißigfache verschätzt hat. Die von bildungspolitischer Seite diesem Problem gegenüber demonstrierte Ignoranz dürfte sich schon bald ins Gegenteil verkehren und dann möglicherweise zu falschen, kurzschlüssigen Reaktionen der Härte und des Wegschließens jener Schülerpopulationen führen, die wir in unserer Untersuchung als stark symptombelastet aufgedeckt haben. Dabei wird das in diesem Heft vorgestellte Zahlenmaterial kaum ernsthaft in Frage zu stellen sein, basiert es doch auf methodisch soliden Erfassungsinstrumenten, die interessanterweise auch im darauf folgenden Beitrag von Andreas Bäcker verwendet worden sind. Bäcker geht es in seiner Untersuchung um den Zusammenhang zwischen den Variablen Verhaltensauffälligkeit (gemäß der CBCL) und Intelligenz bei einer klinischen Inanspruchnahmepopulation. Bäcker hält auf Grund seiner Ergebnisse die CBCL für ein nützliches Diagnostikum zur Aufdeckung spezifischer personaler Anpassungsprobleme bei leichter Intelligenzminderung. Der hintere Teil dieses Heftes widmet sich schließlich den alternativen Kommunikationsmöglichkeiten (AAC) für Menschen ohne ausreichende Lautsprache. Susanne Wachsmuth stellt in ihrer heuristischen Abhandlung die Parameter einer normalen Kommunikation gemäß Schulz von Thun den Möglichkeiten gegenüber, die die unterschiedlichen AAC-Methoden bieten. Die Autorin kommt zu Schlussfolgerungen, die in der AAC-Literatur bisher kaum gezogen worden sind, und verdeutlicht damit deren Grenzen. Mit diesem Heft wird in der Heilpädagogischen Forschung eine neue Inhaltskategorie eingeführt: Diskussion. Der Anlass dazu ist schnell aufgeklärt: Die Leserschaft der Heilpädagogischen Forschung wird sich an die Ausführungen Allmuth Bobers in der letzten Ausgabe erinnern, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Münchener Studie zur Gestützten Kommunikation zum Inhalt hatten. Dieser Beitrag ist nicht unwidersprochen geblieben. Karl Übelacker, Vater eines FC-Schreibenden, stellt seinem Diskussionsbeitrag den Titel voran: ‚Kann die Forschung weiterhelfen?' Die Redaktion der Heilpädagogischen Forschung hat heftig darüber gestritten, ob denn diese Zeitschrift ein angemessenes Publikationsorgan für Beiträge sein kann, in denen die Berechtigung einer heilpädagogischen Forschung in ausgewählten Inhaltsbereichen wie der Gestützten Kommunikation hinterfragt wird. Schließlich haben wir uns zur Aufnahme dieses Diskussionsbeitrages entschieden, weil er auf eindringliche Weise die Perspektive der Betroffenen widerspiegelt, die nun einmal keine wissenschaftliche Sicht sein kann. Ebenso selbstverständlich musste dann allerdings die Aufnahme der Replik von Allmuth Bober sein, deren Ausführungen zur Münchener Studie das Diskussionsziel waren. Wenn sich die Leserschaft der Heilpädagogischen Forschung mit Sicherheit nicht alle in diesem Heft vertretenen Standpunkte zu eigen machen kann, so wird doch einiges nachdenklich stimmen, was mit und ohne Emphase in dieser Ausgabe der Heilpädagogischen Forschung vorgetragen wird.

Ihr Herbert Goetze

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aktualisiert am 26.01.2004